Jakob Fraisse - virgin-jazz-face

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Sechs fragile Klavierstücke und ein Vertragsbruch
 
Jenseits von hauchzarter und zerbrechlicher Klaviermusik bietet das Abschluss-Konzert der Chili Gonzales Tour zu viele Klischees und zu wenig von allem anderen.
 
Dass es sich um keinen gewöhnlichen Abend handelt, sieht man bereits im Forum der ausverkauften Bremer Glocke. So viele Turnschuhe und Trainingsjacken gibt es hier selten zu sehen. Und spätestens wenn Chili Gonzales in Morgenmantel und Pantoffeln auf die Bühne schlappt, ist klar, dass hier kein konventionelles Klavierkonzert stattfinden wird, wie man es sonst erwarten könnte. Der als Jason Charles Beck in Montreal geborene Entertainer, der sich auch selber gerne mal als „Musical Genius“ bezeichnet, mag dabei als Musiker tatsächlich überzeugen, als Entertainer ist er aber teilweise kaum auszuhalten.
 
Aber zunächst zur Musik. Die Stärke des knapp zweistündigen Abends sind die ersten sechs Stücke aus dem Solo-Piano Programm. Gonzales kommt auf die Bühne, ein kurzer Applaus, Spotlight auf das Klavier und dann folgt wunderschöne und einfühlsame Klaviermusik. Vorerst ungestört von selbstbeweihräuchernden Ansagen, lediglich durchbrochen vom taktweise hustenden, anscheinend kollektiv erkältetem Publikum. Mit der eingängigen Melodie von „Gogol“ eröffnet er den Abend. Es folgen zarte Stücke, die poppig aber nicht simpel sind. Mit überraschenden Modulationen und Taktarten wie in „Prelude in C Sharp Major“ im 5/8 und „Present Tense“ im 7/8 Takt. Dynamisch und kraftvoll, aber nie sperrig oder unzugänglich. Musikalisch wird das Programm durch die Cellistin Stella Lepage bereichert. Bei „White Keys“ und „Advantage Points“ ergänzt die Klangfarbe des Cello wunderbar Gonzales Klavierspiel.
 
Der Pflichtteil des Abends ist also absolviert, Gonzales spielt seine weltberühmten neoklassischen Solo-Piano Stücke. Und ab dann geht es bergab, eigentlich schon mit der ersten Moderation. Er spricht von den hohen Erwartungen die Publikum vielleicht haben könne, die er aber genau so an das Publikum hat. Es sei wie ein Vertrag in dem man beschließt einander nicht zu enttäuschen. Leider kann Gonzales diesen Vertrag nicht einhalten. Was folgt sind aneinandergereihte musikalische Klischees. „Stille Nacht“ in Moll statt in Dur. Rap zum Metronom als „ältester Beatmaschine der Welt“. Der einhändig gespielte „Cm Blues“, mit der anderen Hand stützt Gonzales den schweren Kopf. Die seichte Begleitung durch den Schlagzeuger Joe Flory. Ein dreistimmiger Chorsatz. Alles irgendwie nett, aber alles auch schon mal gehört - nur besser. Spätestens als Joe Flory mit Four-On-The-Floor Bassdrum das Publikum dazu anregt auf alle vier Zählzeiten mit zu klatschen hat das nichts mehr mit der zarten Solo-Piano Musik zu tun, die am Anfang des Abends Emotionen ausgelöst hat. Ähnlich Gonzales Erläuterungen des „Bach-Tricks“ - ein Motiv aus zwei Tönen auf der fünften Stufe wiederholen und schon sei die Komposition fertig. Genau wie bei Kurt Cobain und Britney Spears. Es folgen „Riecht wie jugendlicher Geist“ und „Schlag mich Kindchen, noch ein mal!“ - wer Bachs Fugen so dekonstruiert, macht es sich vielleicht auch ein bisschen einfach. Da hilft auch nicht der Gastauftritt des Pianisten Malakoff Kowalski, den Christian Riethmüller in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Satie und Debussy verglich. Hier wechselt Gonzales uninspiriert an die Melodika, um das Thema zu doppeln.
 
Er wird oft gepriesen als der große Entertainer. Aber die Witze wirken zu eingespielt und kalkuliert. Viele kennt man schon aus unzähligen YouTube-Videos. Er wird gefeiert als Musiker. Aber wer klassische Musik mag, vermisst Präzision. Wer Jazz mag, vermisst Improvisation jenseits der Komfort-Zone. Wer Pop mag, vermisst die Ohrwürmer. Aber wer das Macho-Gehabe, das große Ego, die vorhersehbaren Witze und die zahllosen musikalischen Klischees verzeiht, für den bleibt trotzdem etwas Besonderes. Die ersten sieben wunderschönen, fragilen und emotionalen Kompositionen, die Gonzales ohne Kommentar und vor 1200 bewegten Zuschauer*innen spielt. Und denen scheint es größtenteils zu gefallen - Gonzales wird mit Standing Ovations in die Winterpause verabschiedet.
 
Text: Jakob Fraisse  Foto: Antonia Wohlgemuth


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Von Orten, Zeiten und Kreisen das „Tingvall Trio“ in der „Bremer Glocke“
 
Martin Tingvall – Piano
Omar Rodriquez Calvo – Bass
Jürgen Spiegel - Schlagzeug
 
Drei Musiker aus drei Ländern, Hamburg als Ort der sie verbindet. Sie ziehen in Zirkeln hinaus in die Welt, spielen Konzerte in fernen Ländern, um wie das Thema ihres Stücks Evighetsmaskinen immer wieder heimzukehren. Und um festzustellen, dass sich auch die Zeit in Zirkeln bewegt. Jakob Fraisse trifft Pianist Martin Tingvall, Kontrabassist Omar Rodriguez Calvo, und Schlagzeuger Jürgen Spiegel vor ihrem gefeierten Konzert in der Bremer Glocke. Es entsteht ein Gespräch über prägende Orte, zirkulierende Zeit und die Jahresringe eines Baums.
 
Einer dieser prägenden Orte ist für die drei Hamburg, Ausgangspunkt für viele Zirkelbewegungen und Lebensmittelpunkt. Und ein Grund dafür ist natürlich der Jazz in der Stadt.
 
Omar: Hamburg ist eine super tolle Jazzstadt. Es gibt viele Festivals. Es gibt viele gute Studenten in der Hochschule. Das Birdland ist ein muss. Oder der Stage Club, da haben wir schon ein schönes Video aufgenommen. Es gibt viel Bewegung.
 
Jakob: Kriegt ihr auch Entwicklungen in der Szene mit? So etwas wie das Jazzlab zum Beispiel?
 
Martin: Also ich bin nicht so der Konzertgänger. Und wenn, dann gehe ich eher zu Iron Maiden.
 
Jürgen: Es wird viel geboten von den Clubs. Man redet ja immer vom Clubsterben, es gibt kein Geld, aber je schlechter es dem Künstlerbudget geht, desto mehr Musikclubs kommen.
 
An einem zweiten wichtigen und prägenden Ort befinden wir uns gerade. Jürgen hat hier in Bremen, keine Hundert Meter Luftlinie von der Glocke entfernt, in der Hochschule für Künste studiert.
 
Jakob: Bei dir Jürgen gibt es ja auch eine starke Verbindungen mit Bremen.
 
Jürgen: Ja na klar, hier sitzt ein waschechter Bremer dir gegenüber. Einmal Bremer, immer Bremer. Die Geburtsstadt spielt eine große Rolle in einem Leben. Ich bin hier zur Schule gegangen und habe hier meine Jugend verbracht. Ich hab hier viele Freunde. Und in der NDR BigBand gab es Lutz Büchner, Frank Delle, es gibt viele Bremer, die auch in der Szene in Hamburg aufploppen. Und in Bremen, da erinnere ich mich an früher, da gab es ja Ed Kröger, Ignaz Dinné, Uli Beckerhoff, Harry Schmadtke.
 
Wie Martin erklärt ist die Erinnerung und wie sie einen in eine andere Zeit katapultieren kann gemeinsam mit den zyklisch ablaufenden Aspekten Aspekten des Lebens ein wichtiges Thema auf der aktuellen CD.
 
Jakob: Was sind das für zyklisch ablaufende Aspekte im Leben, die euch beeinflussen?
 
Martin: In meinem Leben sind es vor allem die Kinder, weil so die eigene Kindheit hoch kommt. Und gleichzeitig merkt man aber auch, dass die Eltern älter werden und nicht mehr alles schaffen. Und das geht immer in Zirkeln, es ist immer in Bewegung. Und das ist ein Thema für uns alle. Es gab im Radio ein Interview mit einer Frau die gefragt wird: „Wie ist das, 80 zu werden?“ und sie vergleicht das menschliche Leben mit einem Baum. Wenn man den durchschneidet sieht man all die Ringe, all die Jahre zusammen. Und sie konnte zwischen den Jahren springen. Wenn sie mit ihren Enkelkindern gespielt hat war sie zum Beispiel wieder acht. Manchmal wird man auch zurück katapultiert.
 
Vielleicht wird Jürgen das heute erleben, weil da ein paar Personen da sind, die er wirklich lange nicht mehr gesehen hat. Und dann ist Jürgen wieder 20 und in Bremen. Manchmal ist das wunderschön, manchmal ist das aber auch schwer. Das ist das Leben, Cirklar, in Kreisen.
 
Jakob: Gibt es auch Momente, in denen man die Zirkel durchbrechen will?
 
Martin: Ja klar, das gibt es ständig. Aber ich glaube vieles wird dir hingelegt. Man trifft eine Wahl, aber es ist immer in Bewegung. Und wenn man sich wagt, weiter zu gehen, dann bleibt es immer spannend.
 
Von Schwermut ist bei dem Konzert im Saal der prall gefüllten Glocke nichts zu spüren. Die drei wirken eher so, als ob sie sich wagen, weiter zu gehen. Und als ob sie durch die Musik wieder in ihre Kindheit katapultiert wurden. Das Konzert, welches von vier Kameras gefilmt wird, beginnt wie das aktuelle Album „Cirklar“ mit „Evighetsmaskinen“ - der Ewigkeitsmaschine. In keinem anderen Stück ist das zirkuläre Motiv offensichtlicher - es kommt und geht und verändert sich dabei stetig. Auch wenn man laut Martin „an guten Abenden der Setlist nicht folgt“, folgt als zweites wie auf der CD der Song „Bumerang“. Schon diese ersten beiden Songs zeigen, was die Band zu einer der erfolgreichsten Jazzbands Deutschlands macht: einprägsame Melodien, melodiöse Basslinien und ein Schlagzeug zwischen Rock, Pop und Jazz. So arbeiten sie sich durch Stücke von allen sechs Alben. Bei Vägen vom gleichnamigen Album aus dem Jahre 2011 applaudiert das Publikum schon bei der Ankündigung, die verschiedenen Soli werden frenetisch gefeiert, und am Ende des Konzerts steht der ganze Saal - auch noch nach der dritten Zugabe. Auch wenn das Trio schon einige Kreise gezogen hat - zwanzig, in Jahren gezählt - bleibt es einer der spannendsten und beliebtesten deutschen Jazzacts. Und das wird wohl, solange sie es sich wagen weiter zu gehen und sich auf der Bühne immer wieder in ihre Kindheit katapultieren lassen, auch noch lange so bleiben.
 
Text: Jakob Fraisse, Fotos: Charlotte Kühn

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„Cécile McLorin Salvant“ Irgendwo zwischen Jazzkeller, Konzerthaus und Theater
 
Manchmal erlebt man sie, die ganz besonderen Musik-Momente. Äußerst selten, kommen sie auch geballt und unerwartet. Cécile McLorin Salvant spielt zusammen mit dem Aaron Diehl Trio ein phänomenales Konzert in der Bremer Glocke. Das Trio mischt am Abend vor dem Konzert die Session des HFK-Jazzclubs auf. Mit dem ungewöhnlichen Tourplan Philharmonie - Jazzkeller - Philharmonie zeigen die Musiker*innen, dass sie Jazz leben und lieben, unabhängig davon ob zehn oder Tausend Menschen zuhören.
 
Es ist der Vorabend des Cécile McLorin Salvant Konzerts in der Glocke. Im Keller der Hochschule für Musik findet, wie an jedem Dienstag, der HFK-Jazzclub statt. Die Session steht kurz bevor, grade sagt die Opener-Band das letzte Stück an. Es handelt sich um ein Stück von Fred Hersch, einem zeitgenössischen Komponisten, der wohl nicht allen Besucher*innen ein Begriff sein dürfte. “Oh, you are playing a piece from Fred!”, kommt es von einem der drei Gäste, die sich soeben an einen freien Tisch gesetzt haben. Nicht nur das, er nimmt ein Video auf: “I will send it to him.” Schnell wird klar, dass es sich nicht um gewöhnliche Session-Besucher handelt. Sobald die Opener-Band das Stück beendet und die Session eröffnet hat, stürmen die drei auf die Bühne. Shake-Hands: “Hi, I’m Aaron.” Schon nach wenigen Takten des eher nach Klavier-Konzert klingenden Intros, welches  Pianist Aaron Diehl, Kontrabassist Paul Sikivie und Kyle Poole an den Drums anspielen wird klar, dass die drei ihre Instrumente beherrschen. Spätestens als der Walking-Bass einsetzt, und Aaron Diehl sein erstes Solo spielt wird auch den letzten Besucher*innen der Session klar: hier spielen Weltstars.
 
Am Konzertabend selbst steht dann auch die Jazz-Echo-Preisträgerin auf der Bühne. Und auch wenn sie am Vorabend nicht dabei war, diese beiden Orte, Jazzkeller und Konzerthaus, sind eine schöne Metapher für Salvants Musik. Denn viele ihrer Stücke, befinden sich irgendwo zwischen Jazz, Musical, Klassik, und Theaterperformance. Zwischen Keller, Konzerthaus und Theater. Exemplarisch lässt sich das gut an “Glitter and be Gay” aus Leonard Bernsteins Operette bzw. Hugh Wheelers und Stephen Sondheims Musical Candide (basierend auf Voltaires “Candide”) erläutern. Es beginnt mit einem klassisch anmutenden Intro. Zuerst spielt der klassisch versierte Diehl alleine, dann steigt Sikivie mit ein, passend mit Arco, also gestrichenem Kontrabass. Salvants Stimme verändert dann die Stimmung Richtung Musical. Aber nein, wie eine Musicalsängerin klingt sie auch nicht, vielleicht passt eher die vage Beschreibung Contemporary-Jazz-Singer, es erinnert tatsächlich an die Musik des am Tag zuvor gefeierten Herschs. Und dann ein Break. Drums setzen ein. Der Bass fängt an zu walken. Und jetzt wird es Jazz, jetzt swingt es. Und dann ein erneuter Break, Double Time, jetzt sind wir schon fast im Bepop - atemberaubende Soli der vier Musiker*innen inklusive. Nein, so funktioniert das bei Salvant nicht, sie lässt sich nicht kategorisieren.
 
Ähnlich verhält es sich mit ihrer neuen CD “Dreams and Daggers” (Mack Avenue Records 2017). “And yet” beginnt mit Tönen des Catalyst Quartet - zwei Violinen, eine Viola, ein Cello. Klassische Besetzung, klassischer Sound. Nach acht Takt kommt das Piano dazu, nach weiteren vier Drums und Kontrabass. Und schon sind wir wieder irgendwo dazwischen. Auch das folgende Stück “Devil May Care” beginnt mit einem sehr modern klingenden Intro. Dann schwingt es. Und es wird nach dem Piano-Solo zum ersten Mal geklatscht. Natürlich, eine Live-Aufnahme. Bis hierhin klingt es nicht nach Live, so präzise, so gut aufgenommen, so gut abgemischt.
 
Zurück in die Glocke. Auch hier haben wir fantastischen Sound. Der versierte Sound-Engineer Lennart Jäger, der im Rahmen der Glocke Jazz Nights schon viel Erfahrung gesammelt hat, lässt alle Instrumente differenziert und gut balanciert klingen. Keine einfache Aufgabe in einem Raum wie der Glocke.
 
Und dann ist da noch die Performerin Salvant, die eher auf eine Theaterbühne passen würde. Stücken wie “Somehow I could never believe” aus Kurt Weils Musiktheaterstück “Street Scene” setzt sie durch Einsatz von Mimik und Gestik, ähnlich einer Schauspielerin, in Szene. So stellt sie eine Verbindung zum Publikum her und zieht es in ihren Bann. Es ist aber nicht nur Performance, man spürt, dass Salvant den Jazz lebt und liebt. Und Musicals. Und die Klassik. Und Theater. Und ihren Platz irgendwo dazwischen gefunden hat.
 
Text: Jakob Fraisse, Foto: Charlotte Kühn

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„Johanna Borchert & Band“ am 19. Mai in der "Glocke" in Bremen
 
Wer soll sich das anhören?
 
Schon nach wenigen Stücken wird klar, dass Johanna Borchert und ihre um ein Streichtrio erweiterte Band so gut wie alles spielen können. Von Pop bis Klassik, von moderner Musik bis Indie-Rock, von lyrisch bis funkig, von filigran bis fett und pompös. Und immer wieder blitzt Jazz auf höchstem Niveau auf. Die Erkenntnis, hier eine unglaublich vielseitige Band vor sich stehen zu haben geht allerdings mit folgender Frage einher: wer soll sich das hören? Oder anders gefragt, schafft es die Band, die offensichtlich in vielen Genres zu Hause ist, eine Klammer um ihre Performance zu setzen und die Liebhaber der verschiedenen Genres glücklich zu stimmen?    
 
Zunächst aber soll die musikalische Queerness erläutert werden. Mit einem bloßen Blick auf das Line-Up ist es unmöglich, Schubladen auch nur auf zu machen. Moog auf der gleichen Bühne mit einer Geige, das kennt man vielleicht noch von Snarky Puppy. Ein Megaphon das Drumheads zum Schwingen bringt und durch Cymbal Scrapes kreischende Becken, das wäre für die angesagte Band aus den U.S.A. aber zu modern. Was für ein Ensemble da auf der Bühne steht wird klarer, wenn man sich die einzelnen Biografien anschaut.
 
Zuerst die in Bremen aufgewachsene Borchert, die wahrscheinlich vielseitigste der musizierenden Grenzgänger*innen. Sie ist studierte Jazzpianistin - klar - hat sich im Studium in Chennai aber auch mit klassischer indischer Musik beschäftigt. Gelernt hat sie außerdem bei Fred Frith, bei dem das Sprengen musikalischer Grenzen wahrscheinlich in der ersten Unterrichts-Einheit behandelt wird - nicht umsonst gibt es einen ihm gewidmeten Film namens Step Across the Border. Die Gitarren-Legende begleitete Borchert auf ihrem ersten Solo-Album FM Biography. Hier wird klar, woher der Free-Jazz Anteil in ihrer Musik kommt. Und von wem sie das Komponieren und Arrangieren moderner Musik gelernt haben könnte. Denn für ein Stück überlässt Borchert dem Streichquartett die Bühne - und lässt Sie ein von ihr komponiertes und arrangiertes modernes Stück vortragen, was sowohl Musiker*innen als auch Bandleaderin nach eigener Aussagen ins Schwitzen gebracht hat. Beim Spielen merkt man davon nichts. Das Publikum lässt sich begeistern. Auch bei ihrem Stück Lightyears gelingt der Genrewechsel. Als Single gibt es den Song mit visuell ansprechendem Video und in catchigem Pop-Gewand. Die Radio Version. Live ist nur noch die vom Cello gespielte Basslinie übrig geblieben. Der Rest ist Free-Jazz. Auch das zeigt, dass es sich um eine besondere Künstlerin handelt: sie beweist Mut, den sicheren Grund erfolgreicher Arrangements zu verlassen, bricht diese auf und sorgt für ein Live-Erlebnis, was fast nichts mehr mit der eingespielten Version gemein hat.   
 
Jonas Westergaard ist ein aus Dänemark stammender Jazz-Kontrabassist und ist fester Bestandteil der dänischen und deutschen Jazz-Szene. Kurz erwähnt sei seine Zusammenarbeit mit dem Starpianisten Michael Wolny und dem Musiker / Komponisten / Sozialwissenschaftler Christopher Dell. Ohne Probleme wechselt Westergaard von Kontrabass zu Moog, von E-Bass zum Gesangs-Mikrophon. Um unfassbar charmant und lässig den Text abzulesen - Eitelkeiten sucht man vergeblich.
 
Moritz Baumgärtner hat bei Jim Black studiert. Fans von grenzüberschreitender (neuer) Musik und Free Jazz wird das als Gütesiegel reichen. Wolf Kampmann sagte über Black einmal: “Mit perkussiven Flächen spielend und mit einem luftig komplexen Rhythmusgefühl und ausgeprägtem Experimentiergeist ausgestattet, kann er in jedem Kontext von Neuer Musik über Free Jazz bis Techno persönliche Akzente setzen.” Diese Aussage kann man ohne Abzüge auf Baumgärtner übertragen. Denn aufgetreten ist er schon mit Jazz-Vokalist Theo Bleckmann, Klezmer-/Jazz-Klarinettist Perry Robinson, dem Andromeda Mega Express Orchestra (Zitat Henning Sierverts: “unerschrockene Neugier und Offenheit für fast alles”), und der Anarcho-Indie-Band Bonaparte. Zusammen mit Peter Meyer ist er Teil des Melt-Trios, das laut Norbert Krampf einen “Wegweiser in die europäische Musiklandschaft” gesetzt hat.
 
Alle auf der Bühne stehenden haben also ihre ganz eigene (FM) Biography. Wie schafft es Johanna Borchert all diese musikalischen Biographien zu einem Gesamtkunstwerk zu vereinen, das dann auch noch dem Publikum gefällt? Ganz einfach: durch Jazz und das richtige Verhältnis der vertretenen Genres. Dadurch, dass in keinen zwei Liedern das gleiche Genre dominiert. Dadurch, dass auf jeglichen Dogmatismus verzichtet wird. Durch den von Bernstein als so wichtig erachteten musikalischen Witz, die musikalische Überraschung. Und nicht zuletzt durch authentische und unaufdringliche Ansagen. Und wenn man es doch auf ein verbindendes Element herunter brechen möchte, dann ist es der Jazz, der sich so wunderbar mit anderen Musikrichtungen kombinieren lässt und eine musikalische Klammer um die Veranstaltung bildet. Außerdem findet das ganze zur richtigen Zeit am richtigen Ort statt. Die Glocke, über die Margaret Price einst sagte: „Die Glocke ist für Sänger der beste Saal der Welt!“, eignet sich hervorragend zum Sprengen von Genre-Grenzen - zuletzt hier passiert beim Galakonzert der jazzahead! mit Starpianist Iiro Rantala und der Deutschen Kammerphilharmonie - einer Melange aus Klassik, Jazz und Pop. Da fällt auch schon das nächste Schlagwort, Johanna Borchert spielte zuletzt bei der German Jazz Expo 2014 auf der jazzahead! - jetzt in der Glocke. Das kann kein Zufall sein und beantwortet die Frage, was für einen Einfluss ein Leuchtturmprojekt wie die jazzahead! auf die Bremer Jazz-Szene hat: einen sehr guten.
 
Und um jetzt nochmal die provokante Eingangsfrage zu beantworten, wer sich diesen Genre-Mix denn anhören solle: einfach alle! Grade in diesen gesellschaftlich aufgewühlten Zeiten braucht es Grenzüberschreitungen und Übersetzer, die es schaffen, die Angst vor der Grenzüberschreitung zu nehmen. Johanna Borchers vollzieht und moderiert diese ganz fabelhaft. Mit Charme, aber ohne aufgesetzt zu sein. Mit Humor, aber ohne aufdringlich zu sein. Mit Kompetenz, mit einer großartigen Stimme und großartigen Bandleader Qualitäten.
 
 
Text & Foto: Jakob Fraisse
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