Christoph Giese II - virgin-jazz-face

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Tampere Jazz Happening 2024
 
Tampere, Finnland
Die Bandbesetzung ist jazzklassisch: Saxofon, Klavier, Kontrabass und Schlagzeug. Und der Bandleader steht auch mit einem Bein fest verwurzelt in der Tradition des Jazz, des Blues oder Gospels. Aber auf der anderen Seite ist US-Saxofonist und Bassklarinettist David Murray immer auch freien Spielformen gegenüber offen gewesen. Und daraus bezieht auch sein aktuelles Quartett mit drei wesentlichen jüngeren Jazzcats, darunter die spanische Pianistin Marta Sánchez, seinen Reiz. Es ist die perfekte Kombination von beiden Welten. Elegant wird geswingt oder auch mal ordentlich gegroovt, bis sich Murray aufmacht in die hohen Register und seine Kanne quietschen und röhren lässt, improvisiert, dass es eine Freude ist. So bekommt seine Musik Ecken und Kanten, die seine Band nicht so liefert. Und am Schluss überrascht auch noch der finnische Rapper Paleface, der ansonsten als Moderator auf der Hauptbühne humorvoll durch die Festivaltage führt, mit einer spontan während des Konzertes (!) mit Murray abgesprochenen Rap-Einlage bei der letzten Nummer. David Murray, inzwischen schon 69 Jahre alt, zeigt sich in Tampere nach jahrzehntelanger Karriere taufrisch und noch immer ziemlich hip.
 
Hip ist auch schon was das Duo des finnischen Akkordeon-Wizzards Kimmo Pohjonen und des schwedischen Baritonsaxofonisten Mats Gustafsson so anzubieten haben. Die beiden spielten in Tampere erst zum zweiten Mal überhaupt zusammen. Ihre überwiegend auf Improvisationen basierender Auftritt aber fordert den Zuhörer mit wilden Ausbrüchen und all den elektronischen Bearbeitungen des Akkordeonsounds. Jedenfalls eine Musik, die wach machte. Und Energie ist wichtig beim viertägigen Tampere Jazz Happening, vor allem am Freitag und Samstag, wo die Konzerte teilweise schon am frühen Nachmittag beginnen und das letzte erst um ein Uhr morgens startet.
 
Dieses Jahr stand in Tampere Portugal als Gastland im Fokus mit gleich vier Bands., darunter das mit gleich vier Saxofonisten bestückte, fulminante Sextett Axes von Saxofonist João Mortágua. Oder das fantastische Quintett von Demian Cabaud mit seinem vom mexikanischen Dichter und Schriftsteller Octavio Paz inspirierten Projekt „Árbol adentro“. Der argentinische, aber schon lange in Portugal lebende Bassist und die beiden Saxofonisten João Pedro Brandão und José Pedro Coelho, Drummer Marcos Cavaleiro und der immer wieder eigenwillig, aber superinteressant in die Tasten greifende Pianist João Grilo spielen eine Musik mit vielen Facetten und Schattierungen. Gefühl, Individualität und kollektives Bewusstsein, Schnittpunkte etwa zu argentinischer Folklore, aber immer wieder auch die Kraft und vor allem die Freiheit des Jazz – daraus gestalteten Cabaud und Band betörende Musik.   
 
Duke Ellington soll das gleiche Stück niemals genau gleich gespielt haben. Sagt Pat Thomas über den großen amerikanischen Komponisten und Pianisten, dessen Musik er solo schon häufiger rekonstruiert hat. Zum zweiten Mal erst tat der britische Pianist das in Tampere zusammen mit den beiden Norwegern Per Zanussi (Kontrabass) und Ståle Liavik Solberg (Schlagzeug). „Daydream – The Music Of Duke Ellington“ heißt das gemeinsame Projekt. Spannend wie das Trio Ellington-Musik neu arrangiert hat und neu beleuchtet. Vor allem Pat Thomas bricht die Themen spannend auf um sich improvisatorisch mit eigenen Ideen darin zu bewegen.   
 
Einfach nur gute Unterhaltung hatte dagegen Donald Harrison mit seinem Quartett im Sinn und servierte erst einmal seinen süffigen Nouveau Swing, eine Mischung aus swingendem Jazz, R&B, Soul und New Orleans Jazz. Das gleichnamige Album hat der Altsaxofonist aus der Crescent City schon Ende der 1990er Jahre herausgebracht. Doch dann folgte abrupt eine Geschichtsstunde des Jazz mit Rückblicken zu Sidney Bechet, Charlie Parker und John Coltrane. Dann noch ein kurzer musikalischer Trip nach Puerto Rico und ein immer beliebigeres Konzert wurde Realität. Immerhin, alles klasse gespielt und perfekt gesetzt als Ausklang eines langen Konzertabendes.   
 
25 Konzerte gab es an den vier Festival-Tagen. Und fast immer wurde man fürs Kommen mit interessanter Musik belohnt. Etwa beim finnisch-belgisch-niederländischen, lediglich vierköpfigen Orchestra Nazionale della Luna um Pianist Kari Ikonen und Saxofonist Manuel Hermia und einem Quartett-Jazz, der Hörgewohnheiten auch dank Moog-Synthesizer und überraschenden Einfällen und plötzlichen Stimmungswechseln immer wieder kontrakariert. Oder vom norwegischen Powertrio Bushman´s Revenge, das in der Besetzung Schlagzeug, E-Bass und E-Gitarre auch nach über 20-Jähriger Bandgeschichte noch immer mit seiner Mischung aus knalligem Progrock und Jazzfreiheit mitreißt und die Ohren ordentlich freibläst.
 
Das Ethnic Heritage Ensemble um Schlagwerker Kahil El´Zabar bot vielleicht einen Hauch zu viel Spiritualität im Vergleich zu wenig wirklich packender Musik. Dafür nahm Poetry-Künstlerin aja monet mit ihren starken sozialkritischen und politischen Gedichten und Aussagen kein Blatt vor den Mund, immer begleitet von den lässigen Jazzklängen ihrer erstklassigen Band. Junge finnische Bands gab es auch fast jeden Abend im Restaurant Telakka zu hören. Und genau dort endete das diesjährige Festival auch mit dem portugiesischen Free-Impro-Trio Bode Wilson und einem pausenlos gespielten, intensiven Set, das den Hörer von Minute zu Minute mehr in den Bann zog.
 
Den bedeutenden Yrjö-Award des finnischen Jazzverbandes erhielt dieses Jahr im Rahmen des Festivals übrigens der Bassist Antti Lötjönen.
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Maarit Kytöharju


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Vilnius Jazz 2024
 
Vilnius, Litauen
Es lebe das Duo! Fans dieser kleinsten Besetzung nach dem Solo dürften zufrieden nach Hause gegangen sein nach dem ersten Abend des 37. Vilnius Jazz. Hat Festivalleiter Antanas Gustys doch gleich mal drei Duo-Formationen auf die Bühne des wunderschönen Alten Theaters von Vilnius gestellt. Da las Vytautas Landsbergis, Musiker und Musikologe sowie bedeutender Politiker und erstes Staatsoberhaupt seines Landes nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Litauens 1990, seine eigene Poesie vor. Dazu trommelte der legendäre russische, aber schon ewig in Litauen lebende Vladimir Tarasov spontan, was ihm dazu einfiel. Leider oft ein wenig spannungsarm, das Ganze. Sicher auch, weil man als Nicht-Litauer die litauischen Texte nicht verstand. Die beiden Franzosen Vincent Courtois und François Corneloup brauchten auf Cello und Baritonsaxofon dagegen keine Worte und begeisterten mit ihren Konversationen zwischen griffigen, kurzen Melodiesprengseln und freien Gedanken ebenso wie anschließend das australische Duo Alister Spence (Piano) und Tony Buck (Schlagzeug).     
 
Der zweite Festivalabend ging gleich in die Vollen. Flöte, Schlagzeug und elektrische Harfe machen als Instrumentierung schon mal neugierig. Und was Delphine Joussein, Rafaëlle Rinaudo und Blanche Lafuente als Trio Nout damit anstellen, ist wild. Die jungen Französinnen modifizieren nicht nur die Sounds von Flöte und Harfe, die dann nach allem Möglichen klingen, sie servieren auch einen betörenden Mix aus Jazz, Noise-Rock und Electro, der mal detailreich, leise und fast akustisch klingt, im nächsten Moment aber brachial und wie ein Heavy Metal-Gewitter über den Zuhörer hereinbricht. Amirtha Kidambi´s Elder Ones setzen anschließend mehr auf hypnotische Soundlandschaften. Die charismatische Figur der US-Band ist die indisch-amerikanische Sängerin und Harmonium-Spielerin Amirtha Kidambi, deren starkes soziales und politisches Bewusstsein sie bei ihren Ansagen nicht verbergt, vielleicht manchmal sogar zu oft betont. Ihre auf dem Harmonium produzierten Drones und ihr oft wortloser Gesang kontrastiert ihre Band mit zwei exzellenten Saxofonisten, Kontrabass und Schlagzeug mit vielen Texturen und Rhythmen und gestaltet einen packenden Spiritual Jazz mit südindischem Flavour.    
 
Ein japanischer Abend startete mit zunächst drei allerdings mitunter etwas langatmigen Klangsucherinnen, mit der litauischen Pianistin Gintė Preisaitė und den beiden Japanerinnen Sachiko M am Oszillator und Perkussionistin und Marimbaspielerin Aikawa Hitomi. Der Höhepunkt war ohnehin der Auftritt der vielköpfigen Otomo Yoshihide Special Big Band. Das Orchester des legendären Gitarristen und sein Hardcore Avant-Noise-Jazz-Rock-Gebräu riss das Publikum mit viel Verve und zwischendurch auch mal herrlich groovenden, griffigen Passagen und heißen Bläsersätzen im ausverkauften Theater unweigerlich mit.   
 
Das LENsemble des litauischen Dirigenten Vykintas Baltakas, eine Band mit elf Holz- und Brassbläsern, Kontrabass und Schlagzeug und beim Vilnius Jazz verstärkt durch die belgische Sopranistin Naomi Beeldens, forderte vom Publikum viel Aufmerksamkeit. Vor allem mit dem gut halbstündigen Multimedia-Werk „M is for Man, Music, Mozart“ des niederländischen Komponisten Louis Andriessen, zu dem der britische Filmregisseur Peter Greenaway gesellschaftskritische, provozierende Filmsequenzen beisteuert, die auf einer großen Leinwand über der Bühne laufen. Ein Spiel mit Worten, mit sensibler Ästhetik gezeichnete Bilder, ein Werk für die Sinne, das Fragen aufwirft. Großartig gespielt vom LENsemble. Auch Andriessens Werk „Il Duce“ provoziert in Vilnius. Weniger mit den Auszügen einer Rede des italienischen Diktators Mussolini an sich, aber wie seine Worte dann minutenlang geloopt werden, sich durch geschickte Tonbandmanipulationen dabei langsam auflösen und selbst zerstören – ein starkes Statement zum Thema Faschismus, das am Ende durch eine Coda mit den berühmten Klängen von Richard Strauss´ „Also sprach Zarathustra“ einen passenden Schlusspunkt bekommt.
 
Der Nachwuchswettbewerb Vilnius Jazz Young Power im Theater sowie interessante Vorträge über die Kunst des Arrangierens oder die japanische Jazzkultur, die zum ersten Mal im schicken Museum für Moderne Kunst, dem MO Museum, stattfanden, rundeten das Festival ab. Und zum ersten Mal gab es auch Kinoabende direkt vor und nach den Festivaltagen, mit interessanten Filmen des britischen Dokumentarfilmers Dick Fontaine über Art Blakey oder Sonny Rollins. Und sein bedrückender Streifen „I Heard It Through The Grapevine“ aus den frühen 1980ern, in dem die Kamera den afroamerikanischen Bürgerrechtler und Autor James Baldwin durch eine Reise durch den amerikanischen Süden begleitet, wühlte auf. Der Film blickt auf die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den 1960ern zurück. Ein schrecklich aktueller und daher wichtiger Film. Nicht immer muss der Jazz tönen bei einem Jazzfestival.
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Vygintas Skaraitis, Greta Skaraitiene, Daiva Kloviene


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NUEJAZZ 2024 in Nürnberg

Viel besser hätte das Jahr für das NUEJAZZ kaum laufen können, gewann das ambitionierte Festival doch im Jahr nach dem zehnjährigen Jubiläum nicht nur den Kulturpreis der Stadt Nürnberg sondern gleich auch noch den Deutschen Jazzpreis als „Festival des Jahres“. Okay, eine in den letzten Jahren erhaltende, bedeutende Festivalförderung ist ausgerechnet in diesem so erfolgreichem Jahr weggebrochen, aber davon lassen sich die beiden Festivalgründer und Macher Frank Wuppinger und Marco Kühnl glücklicherweise nicht entmutigen, sondern boten stattdessen auch 2024 ein vielseitiges und spannendes Festivalprogramm an.
 
Etwa mit dem US-Gitarristen Kurt Rosenwinkel und seinem reaktivierten Projekt „The Next Step“, bei dem in Nürnberg Ben Wendel Saxofon spielte anstelle des etatmäßigen Mark Turner. Ansonsten ist die Besetzung mit Bassist Ben Street und dem famosen Jeff Ballard am Schlagzeug die ursprüngliche. Geblieben ist auch die aufregende Musik des dicht zusammen agierenden Quartetts voller Improvisationskunst und vielfältigen Schattierungen von leiser Poesie bis cool-lässiger und dennoch warm klingender, boppiger Intensität.   
 
Das Wort Jazz mag er nach eigenem Bekunden gar nicht. Das schrecke viele ab, die meine Hörer sein könnten, sagt Theo Croker. Und hat damit durchaus recht. Denn seine Hörer können eigentlich alle sein. Die Jazzer, auch aber auch die coolen jungen Kids, die sich von dem modernen Soundmix des US-Trompeters und seinem Quartett angezogen fühlen dürften. Von den knalligen Drum-Beats des Schlagzeugers. Oder den ausufernden Läufen auf Fender Rhodes und Keyboard seines auch am Konzertflügel spielenden Pianisten. Und dann natürlich vom lässigen, coolen, aber gleichzeitig intensiven Trompetenspiel Crokers, das mal klar und wie ein Strahl die Sounds der Band durchdringt, mal mit Hall angereichert ganz andere Klangbilder generiert. Zwischen Jazz, Funk, Soul, Fusion, HipHop, Afrofuturismus, Club-Elektronik und einem Schuss Spiritualität und mit gesampelten Stimmen von Jill Scott oder Estelle kreiert Croker in Nürnberg eine furiose, stylische Black American Music mit großer Sogwirkung. Wie anders klang da direkt zuvor das Quartett von Melissa Aldana. Die chilenische Tenorsaxofonistin ist deutlich puristischer im Jazz unterwegs, zeigte beim NUEJAZZ aber ihre ganze Klasse mit selbstkomponierten Akustik-Perlen ohne jegliche Klischees, dafür mit  ausdrucksstarkem, eindringlichen Saxofonspiel, hoher Improvisationskunst und einem dichten Sound mit ihrem Trio um den Klase-Pianisten Glenn Zaleski.           
Auch Alfa Mist zählt zu den aktuell gehypten Jazzern mit seiner Lounge-Ästhetik, seinem zeitgenössischem Jazz mit Popappeal und HipHop-Beats. Im großen Z-Bau, einer früheren Nazi-Kaserne und für zwei Abende Festivalspielort, lockte der Brite viel Publikum und vor allem viel junges Publikum zu seinem Stehkonzert an. Dabei klingt seine Musik, zumindest live gespielt, ein wenig zu zugänglich, zu wohltemperiert, zu voraushörbar und zu gefällig und so auf Konzertlänge irgendwie dann auch irgendwann ein klein wenig langweilig. Den Gedanken an Langeweile lässt dagegen die holländische Band Gallowstreet gar nicht erst aufkommen mit ihrer tanzbaren Gute Laune-Brass-Powermusik. Sieben Blech- und Holzinstrumente, dazu ein ordentlich Dampf machender Schlagzeuger, mehr brauchen die acht Jungs aus Amsterdam nicht, um sofort Partystimmung zu erzeigen, inklusive Mitsingen der Melodien. Die Stimmung im großen Saal kocht hoch dank der groovigen und schweißtreibenden Musik, die sich stilistisch längst nicht nur beim Jazz bedient und zwischendurch nur mal kurz runtergedimmt wird zur kurzen Beruhigung.
 
Auch bei der zweiten Nacht im Z-Bau herrschte eine fröhliche Club- und Partystimmung, was wiederum am Programm lag. DJs wärmen vor, und Senegals legendäres Orchestra Baobab, immerhin schon 1970 gegründet und nach der Auflösung Ende der 1980er Anfang der 2000er mit frischen Gesichtern wiedervereinigt, brachte dann das erneut zahlreiche Publikum rasch zum Tanzen oder animierte es zumindest zu zarten Bewegungen mit karibisch-kubanisch beeinflusster, jazzparfümierter Weltmusik. Ein Sänger, zwei Saxofonisten, zwei E-Gitarristen, Bass und reichlich Schlagwerk erzeugen eine bunte, softe Klangmischung mit repetitiven Rhythmen, zu denen man einfach ganz easy mitschwingen kann. Was sich im Anschluss bei den Briten der neunköpfigen Truppe Nubiyan Twist mit der stimmstarken Sängerin Aziza Kaye und ihren globalen Grooves zwischen Jazz, Funk, HipHop, Afrobeat, Tanzmusik oder Soul nahtlos fortführen ließ.    
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Helene Schütz


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Leibnitz Jazz Festival 2024
Leibnitz, Österreich
 
Die südliche Steiermark ist ein wunderschönes Fleckchen Erde in Österreich. Und berühmt auch für seinen fantastischen Wein. So mancher Weißwein der Region hat Spitzenniveau. Was das mit einem Jazzfestival zu tun hat? Einiges, denn das Internationale Jazz Festival Leibnitz fügt den Zusatz „Jazz & Wine“ auf Webseite, Plakaten und im Programmheft stolz hinzu. Es wird traditionell am ersten der vier Abende im über 300 Jahre alten Bischöflichen Weinkeller des oberhalb der Stadt Leibnitz gelegenen Schlosses Seggau eröffnet. Und an den beiden folgenden Festivalabenden im Kulturzentrum der Stadt laden die Weinbauern der Region immer zur Verkostung ihrer exquisiten Tropfen vor den Konzerten ein. Genießerherz, was willst du mehr!
 
Wenn dann ein Festival jedes Jahr aufs Neue ein so spannendes, vielseitiges Line-Up aufweist wie das in Leibnitz, dann lohnt sich der Trip in die Steiermark erst recht. Programmmacher Otmar Klammer beweist Jahr um Jahr sein feines Näschen in Sachen Künstler, Konzertdramaturgie und wer zu welchem Spielort passt. Das Berliner Trio I Am Three im Schlosskeller das Festival eröffnen zu lassen, passte perfekt. Saxofonistin Silke Eberhard, Trompeter Nikolaus Neuser und Schlagzeuger Christian Marien tauchten einerseits tief in das Oeuvre von Charles Mingus ein, verknüpften andererseits eigene Kreativität und Kompositionslust im Geiste der Basslegende damit. Das Resultat klang bisweilen wild, aber genauso mitreißend groovig und war geprägt von Improvisationen und dichten Interaktionen.
 
Einen bunten Zirkus hingegen gestaltete tags drauf im Kulturzentrum von Leibnitz der französische Holzbläser Laurent Dehors mit seinem 13-köpfigen Orchestre Tous Dehors mit seinem Projekt „Ok Boomer“. Eine Frontlinie mit acht Bläsern inszenierte zusammen mit der Rhythmusgruppe ein wahres Jazz-Happening, das auch mal kurz infantil und nach Musik für Kinder klingen kann, aber immer wieder überraschte in einem weiten Spannungsfeld von Jazz, Rock oder traditioneller Musik. Dieses Orchester verströmte positive Vibes nur so. Und wie sich mit Augenzwinkern ein Dudelsack als führendes Instrument in diesen bunten, wilden Klangkosmos einbauen lässt, das zeigte der Bandleader am Ende höchstpersönlich. Was für ein Kontrast boten die Franzosen doch zum Duett an zwei Konzertflügeln direkt davor der US-Amerikanerin Myra Melford und der Japanerin Satoko Fujii. Zwei Avantgarde-Pianistinnen, die trotz notiertem Material frei denken und improvisieren, auch gerne mal im Inneren der Klaviere. Und mit unberechenbaren Soundlandschaften aufwarteten, die manches Mal den Kopf beim Zuhören aber doch auch forderten.
 
Aber es gab in Leibnitz auch Griffigeres zu hören. Etwa das Trio Johnology aus Ungarn, mit dem noch jungen Pianisten János Egri Jr., seinem renommierten Vater János Egri am Bass und dem US-Amerikaner Chris Parker am Schlagzeug. Ein feines Trio, das virtuos und erfrischend swingt und gestaltet, auch wenn die klassische Jazztrio-Tradition spürbar ist. Die „Harlem Suite“ des aus Guadeloupe stammenden Saxofonisten Jacques Schwarz-Bart und seinem mit Bassist Reggie Washington, Pianist Grégory Privat oder Sängerin Malika Tirolien exzellent besetzten Quintett bot in Leibnitz einen mitreißenden und energiegeladenen Ausflug in den Harlem-Jazz mit vielen improvisatorischen Feiräumen, die vor allem Pianist Privat und der Bandleader selbst mit heißlaufenden Sax-Soli auskosten. Wie unaufregend klang dagegen anschließend die hoch gelobte französische Sängerin Cyrille Aimée. Sicher, ihre Latin-Version des Jacques Brel-Klassikers „Ne me quitte pas“ etwa war schon ziemlich klasse, aber dafür sorgte in erster Linie ihr famoses Begleittrio, das an diesem Abend irgendwie mehr herausstach als die Sängerin selbst.
 
Zum Festivalausklang ging es wieder hinauf zum Brunch-Konzert zum wundervoll gelegenen Weingartenhotel Harkamp. Und der steirische Wettergott scheint Jazz unter freiem Himmel zu mögen, zeigte sich der Himmel an diesem Sonntagmorgen nach regnerischen Tagen strahlend blau. Und so saß man dann in der wärmenden Spätherbstsonne vor der kleinen Bühne, die wunderschöne Natur im Hintergrund, und ließ sich von der albanisch-schweizerischen Sängerin Elina Duni und ihrem vorzüglichen Trio mit dem britischen Gitarristen Rob Luft und dem schottischen Schlagzeuger Corrie Dick verzaubern. Von gefühlvollen albanischen Volksliedern, einem schweizerdeutschen Liebeslied, Serge Gainsbourgs swingendem „Black Trombone“ oder brasilianischen Klängen eines Luiz Bonfá. Mit ihrer dunklen, vollen, warm tönenden, emotionalen Stimme kann Elina Duni das alles zauberhaft interpretieren. Was für ein gelungener Schlussakkord eines auch im zwölften Jahr immer wieder überraschenden Festivals.
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Peter Purgar


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Bozcaada Jazz Festival  2024
 
Ein Jazzfestival auf einer kleinen türkischen Ferieninsel? Das Bozcaada Jazz Festival möchte jedenfalls so eines sein. Aber dann betritt man das Open Air- Festivalgelände und muss erst einmal an etlichen Wein- oder Whiskeyständen und Bierbuden vorbei. Und man wundert sich, wie viele der vielen Besucher an jedem der drei Abende dort die meiste Zeit verbringen. Junge, schick gekleidete, hippe Türken, die das Festival zum Anlass nehmen bei angenehmen Abendtemperaturen einfach eine gute Zeit zu haben, zu trinken, mit Freunden zu quatschen, der DJane lauschen, die zwischen den Getränkeständen in den Konzertpausen auflegt. Ja, es gibt auch diejenigen, die sich dicht vor die Bühne des hügeligen Geländes drängen um den Bands zu lauschen. Aber auch hier gilt vielfach: Das Selfie mit der besten Freundin oder der kleine Small Talk sind im Zweifelsfall genau so wichtig wie die Musik.
 
Bozcaada Jazz fühlt sich einfach mehr wie eine coole Party an. Und die Musik auf der Bühne passt dazu. Da spielt das türkische Bozcaada Ensemble einen lupenreinen US-amerikanisch geprägten Fusion Jazz, wie er vielleicht vor ein paar Jahrzehnten mal angesagt war. Auch der renommierte türkische Pianist Aydın Esen servierte den Hipstern vor der Bühne einen kraftvollen, fusionlastigen Sound. Zwischen akustischen und elektronischen Jazz pendelt dagegen die Band des französisch-schweizerischen Saxofonisten Léon Phal, mit viel Biss, Inbrunst, funky und lässig groovend. Eine Musik, die mindestens zum Mitwippen einlädt und ebenfalls die genau richtige Mischung für ein eher jazzuntypisches Publikum wie das in Bozcaada, das sichtlich Spaß an dieser Art von Jazz hat.
 
Das von der Kreativ-Organistaion KEŞiF organisierte Festival setzt auf Kooperationen mit anderen Ländern. So kam in diesem Jahr das Projekt Klein vom luxemburgischen Tastenmann Jerome Klein nach Bozcaada. Und die Niederlande unterstützen das Festival mit einem beachtlichen Geldbetrag, so dass man die holländische Nu-Disco-Funk-Soul-Electronic-Band Kraak & Smaak einladen konnte. Mit Alfa Mist beschloss sogar einer der angesagten Acts der hippen, jungen Londoner Jazzszene das Festival auf der pittoresken Ferieninsel.
 
Die kleine Insel Bozcaada ist nur per halbstündiger Fahrt mit einer Fähre vom Festland zu erreichen. Die alte Stadt Çanakkale am Ufer der Dardanellen ist nicht weit entfernt und auf jeden Fall einen Stopp wert. Auch das antike Troja liegt um die Ecke. Neben den beeindruckenden Ausgrabungsstätten lohnt unbedingt der Besuch des erst vor ein paar Jahren eröffneten, neuen Museums von Troja. Und wer sich für Kulinarik interessiert, der ist in der Marmara-Region auf jeden Fall am richtigen Ort. Auch auf Bozcaada gibt es exzellente Restaurants. Das Essen und der heimische Wein dort sind so lecker, da muss man beim Dinner aufpassen, nicht zu lange in den Open Air-Restaurants zu verweilen. Denn der Abend soll ja musikalisch beim Bozcaada Jazz Festival ausklingen.   
 
Text: Christoph  Giese; Fotos: Modifilm Collective (Bozcaada Jazz Festival)


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Reykjavík Jazz 2024
Reykjavík, Island
 
Wenn man seine Band schon Groove Gang nennt, dann sollte sie auch richtig grooven. Die Truppe von Schlagzeuger Gulli Briem tut das. Der auf Island lebende US-Saxofonist Phil Doyle, der sehr geschmackvoll mit Sounds arbeitende Keyboarder Magnús Jóhann Ragnarsson und E-Bassist Róbert Pórhallson spielen zusammen mit dem Bandleader eine frische, knackige, schlagzeuglastige Fusion, mit Songs von Briem oder den guten alten Steps Ahead. Gulli Briem ist einer der bekannten Namen der isländischen Musikszene, trommelte er doch jahrelang in der Band Mezzoforte. Das von ihm Ende der 1970er Jahre mitbegründete Funk-Fusion-Quartett landete 1983 mit „Garden Party“ einen Welthit, der Island schlagartig auf die musikalische Landkarte brachte. Und welch heute bekannte Künstler sind gefolgt, wie etwa The Sugacubes, Björk, Sigur Rós, Múm oder Emíliana Torrini. Auch international tourende, schon namhafte Jazzer gibt es, wie die Pianistin Sunna Gunnlaugs oder die Band ADHD.    
 
Aber das Reykjavík Jazz, wie sich das langjährige Festival nun in der Kurzform nennt, ist immer noch ein wunderbares Event um die isländische Jazzszene besser kennenzulernen. Um ein Trio wie Hist Og in der Besetzung Trompete, Gitarre und Schlagzeug zu hören, das vorzüglich rhythmisch intensiven, vorwärtsdenkenden, zeitgemäßen, auch mal rockig treibenden Jazz mit Improvisiertem und elektronischen Elementen zu verbinden versteht. Oder um das ES Sextett zu entdecken, das zusammen mit der sehr charmant durchs Programm führenden, sehr guten Sängerin Marína Ósk zwar einen lupenreinen Mainstream Jazz spielt, der aber zu keiner Sekunde altbacken klingt. Schon weil zumeist eigene Stücke im Repertoire sind und wenn mal ein Standard erklingt, dann eigenständig und interessant anders arrangiert.
 
ACT-Künstlerin Anna Gréta sorgte zusammen mit ihrem Vater für ein berührendes Duo-Erlebnis. Die Isländerin am Konzertflügel, E-Piano und Gesang, Sigurdur Flosason an Saxofon und Bassklarinette. Folksongs, Jazzstandards, eigene Kompositionen, zart und wunderschön was immer die beiden spielten. Zurückgenommen klingt auch die Musik des Quartetts MOVE des Saxofonisten Óskar Gudjónsson, bei dem mit Pianist Eythór Gunnarsson ein weiteres Mezzoforte-Gründungsmitglied mitspielt. Einen klassischen Jazzsound lassen die vier Isländer fast pausenlos durch den Konzertsaal des beeindruckenden Konzertgebäudes und Konferenzzentrums Harpa, dem Festival-Hauptspielort, schweben. Zwei Bands später ist Gudjónsson dann wieder auf der Bühne, mit einem ganz anderen Sound, als Mitglied des an diesem Abend siebenköpfigen Iceland´s Liberation Orchestra. Zwei Bassisten, ein Schlagzeuger und vier Bläser gehören zu dem Projekt von Saxofonist Haukur Gröndal, das mit dynamischen Interaktionen und bisweilen abenteuerlichen Rhythmen einen freigeistigen, immer spannenden Jazz zelebriert.
 
Natürlich treten auch internationale Künstler beim Reykjavík Jazz auf. Wie das Trio des dänischen Trompeters Jakob Buchanan, der mit seinem Landsmann, dem Pianisten Simon Toldam, und dem US-Saxofonisten und Klarinettisten Chris Speed eine feine, ruhige, mitunter fast meditative Musik spielt. Zu einer echten Überraschung wurde der auftritt des Quintetts GØ von den Färöer-Inseln. Fünf junge Burschen, die herrlich unvorhersehbar und mit ansteckender Spielfreude zwischen Fusion-Jazz, Prog- oder Postrock musizieren – auch mal mit cineastischen Twang-Gitarrensounds, die aus einem Western hätten stammen können. Solo am Konzertflügel präsentierte sich die griechische Pianistin Tania Giannouli und nahm die gebannt lauschenden Zuhörer mit auf eine komponiert-improvisierte Reise durch emotional ansteigende und dann wieder sanft abfallende kleine Stories, in der sie Verweise zur Klassik und griechischen Folklore einflechtet. Auf ihrem Album „Solo“ klingt das schon toll, live ist diese Musik, bei der die Griechin auch den Mut zeigt, traumhafte Klangbilder immer wieder auch mal kurz aufzureißen, noch magischer.
 
Der neue Leiter des Reykjavík Jazz, Pétur Oddbergur Heimisson, selbst klassischer Sänger, führt das Festival in guter alter Tradition fort. Die isländische Jazzszene darf sich ausführlich zeigen und interessante internationale Künstler wie die in Süddeutschland lebende, hochgelobte mongolische Pianistin Shuteen Erdenebaatar mit ihrem Quartet oder der färöische Bassist Arnold Ludvig, der seine eigenen, hörenswerten Kompostionen in seinem Quintett mit vier Isländern spielte, bekommen Platz im Programm. Dazu gibt es Raum für den eigenen Nachwuchs, wie an einem Nachmittag in einer angesagten Bar in Downtown Reykjavík, in der die junge isländische Sängerin Erla Hlín Gudmundsdóttir mit einem kurzen, gut halbstündigen Set schon sehr zu überzegen weiß.   
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Hans Vera, Kevin Whitlock (Harpa)


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Kristupo Festivalis – Christopher Summer Vilnius
Vilnius, Litauen
 
Was für eine Fingerfertigkeit! Wie rasend schnell kann dieser Mann Klavier spielen! Und dann auch noch so präzise. Beide Hände funktionieren scheinbar total mühelos völlig unabhängig voneinander. In Sachen Technik macht Henri Herbert niemand etwas vor. Der Boogie Woogie-Spezialist aus Austin, Texas hat aber auch alles andere, was man braucht. Das richtige Feeling, den richtigen Schwung, die genau richtige Energie. „Boogie Till I Die“ hat Herbert sein 2022 erschienenes Album genannt. Und genau so spielt er auch auf in der ausverkauften Kotryna-Kirche in Vilnius – Boogie Woogie bis zum letzten Atemzug. Ein energiegeladenes Erlebnis, das zwangsläufig mitreißt. Ein Konzert, das zu boogielastig hätte werden können, wenn Henri Herbert nicht auch noch andere Facetten hätte. Die des sehr guten Bluespianisten und auch guten Sängers. Und wie er dann George Gershwins Welthit „Summertime“ interpretiert. Als gemäßigten Boogie, mit rollenden Bassläufen von der linken Hand, die er mit schnellfingrigen Improvisationen mit der rechten ausschmückt. Fantastisch!
 
Das Kristupo Festivalis (Christopher Summer Festival) feiert in diesem Jahr sein 30-jähriges Jubliläum. Seit 20 Jahren ist Jurgita Murauskienė beim größten Sommer-Musikevent in Vilnius dabei, seit 18 Jahren leitet sie das genreübergreifende Festival, das in diesem Sommer in zweieinhalb Monaten knapp 30 Veranstaltungen durchführt. Da gibt es kostenlose Picknick-Konzerte im Park, ein spanisch-österreichisches Flamenco-Gitarrenduo, eine sechsköpfige kubanische Vokal-Combo oder wunderbar interpretierte Musik von Philip Glass mit der  litauischen Pianistin Ieva Dūdaitė und dem St. Christopher Kammerorchester zu hören. Auch eine Orgel-Konzertreihe in einer Kirche gehört zum Programm.
 
Bei der Auswahl der Künstler ist der Festivalleiterin nicht so wichtig, wie berühmt diese sind, sondern was sie von einer Bühne aus transportieren. Persönlichkeit und Charakter, aber auch neue Sounds in ihrem jeweiligen Genre, das müssen sie bei Jurgita Murauskienė mitbringen. Ein Richard Galliano passt da ganz hervorragend, hat der Akkordeonist mit seiner New Musette doch seinen ganz eigenen Stil geschaffen. Mit seinem fantastischen New York Tango Trio mit Kontrabassist Diego Imbert und Gitarrist Adrien Moignard verzaubert der sympathische Franzose in seinem Open Air-Konzert im Innenhof einer Bibliothek in der Altstadt von Vilnius das Publikum, das gebannt die so beseelten Klänge seines Knopfakkordeons genießt. Ob Piaf, Piazzolla oder Eigenkompositionen wie das so herzerwärmende, sanft schwingende „Chat Pître“, Galliano spielt das alles mit einer Zartheit und Klarheit, die tief berührt. Er spielt eine singende, klagende, wehmütige, sehnsüchtige Musik voller süßer Melancholie, bei der New Musette, Tango und Jazz zu Liedern verschmelzen, denen man ewig zuhören könnte.     
 
Kann man so viel Gefühl wie beim Auftritt von Gallianos Trio noch toppen? Cristina Branco jedenfalls bietet tags darauf an gleicher Stelle ein ebenfalls unter die Haut gehendes Konzert. Die kleine Portugiesin mit der großen Stimme hat den Fado im Laufe ihrer Karriere geöffnet, hin zu Tango oder auch südamerikanischen Klängen. Schon mit der Besetzung ihres Trios zeigt die Anfangfünfzigerin, dass sie beim Fado über den Tellerrand hinausblickt. Denn ein Klavier ist in der klassischen Fado-Besetzung nicht vorgesehen. Luís Figueiredo aber setzt wunderbare Akzente auf den schwarz-weißen Tasten. Und auch Kontrabassist Bernardo Moreira und Bernardo Couto an der portugiesischen Gitarre, alle drei spielen übrigens im eigenen, hörenswerten Trio SUL zusammen, bereichern die Welt des Fado mit ihrem Verständnis ihrer langjährigen Betätigungen auch in anderen musikalischen Feldern wie etwa dem Jazz. Viel Sehnsucht, Hingabe, Poesie und Klänge, die wie im Song „Este Silêncio“, der erst ganz intim und verletzlich beginnt, dann von allen drei Musikern mit Klopfen und Reiben ungewöhnlich perkussiv gestaltet wird – Cristina Branco interpretiert in Vilnius den portugiesischen Fado mit erfrischender eigener Note.      
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Modestas Endriuška


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Canarias Jazz & más 2024
 
Kanarische Inseln
 
Diese Frau entfacht derzeit weltweit den größten Hype im Musikbiz. Und auch im wunderschönen Teatro Pérez Galdós sind die Zuschauer restlos begeistert von Frau Swift. Denn die Sängerin zieht vom ersten Moment an eine vor Energie berstende Riesenshow ab. Die Amerikanerin kann alles singen. Harten Rock, Jazz, Pop. Ihre Stimme duelliert sich dann plötzlich wie eine zweite Gitarre klingend mit dem Gitarristen ihrer Band. Und einen Posaunisten braucht sie nicht, den imitiert sie wahnsinnig gut selbst mit ihrem Organ. Dass Frau Swift beim Festival Canarias Jazz & más in einem Theater auftritt und nicht im großen Fußballstadion von Las Palmas, liegt an ihrem Vornamen. Denn die Frau, die wie ein weiblicher Freddie Mercury über die Bühne wirbelt, die Stange des Mikroständers fast immer in der Hand, heißt mit Vornamen Veronica und nicht Taylor, ist musikalisch aber sicher nicht die schlechtere Swift. Wer Veronica Swift bislang nur von Tonträgern und ihren Jazzalben kannte, wird sich in der Kanaren-Hauptstadt verwundert die Augen gerieben haben was diese Vollblutkünstlerin so alles drauf hat, auch wenn sie showmäßig als echte Rampensau manchmal ein wenig over the top agierte.
 
Keine Show, sondern nur wahnsinnig gute Musik spielte tags zuvor im direkt am langen Stadtstrand Playa de Las Canteras gelegenen Alfredo Kraus-Auditorium Dave Douglas mit seinem neuen Projekt „Gifts“. Mit Saxofonist Jon Irabagon, Schlagzeuger Ian Chang und dem immer wieder mit überraschenden, auch basslastigen Sounds aufwartenden Gitarristen Rafiq Bhatia spielt der US-Trompeter eine Musik, die Miles Davis oder Billy Strayhorn zitiert, die Jazzgeschichte, die Gegenwart und die Zukunft mit scheinbar grenzenloser Kreativität miteinander verknüpft, und das alles in einem rhythmisch elektrisierenden Rahmen. Ein Festival-Highlight!
 
Bei der letzten Festivalausgabe gab es das Buenos Aires Jazz Café noch gar nicht, dieses Jahr fanden in dem engen, intimen Jazz Club im historischen Zentrum von Las Palmas gleich einige Konzerte statt. So wie das von Alto For Two, einem Quintett mit zwei Bandleaderinnen, die beide Altsaxofon spielen und gerade ihr gleichnamiges Debütalbum am Start haben. Die Spanierin Irene Reig und die Holländerin Kika Sprangers ergänzen sich in ihrer Band mit der vom spanischen Pianisten Xavi Torres geführten Rhythmusgruppe bestens. Mit ihrer gesanglichen Kraft auf ihren Instrumenten, ihrem Zusammenspiel, ihren unterschiedlichen Klangfarben in den im Fahrwasser des modernen Mainstream fließenden, interessanten Eigenkompositionen.
 
Das Canarias Jazz-Festival bietet nicht nur Konzerte auf allen acht bewohnten Inseln der Kanaren, sondern auch eine große musikalische Bandbreite. Da lauscht man in dem auf 500 Meter gelegenen kleinen Städtchen Santa Brígida auf Gran Canaria etwa dem belgisch-tunesischen Aleph Quintet, Rising Stars der Brüsseler Szene, und lässt sich von Geige, Oud, Piano, E-Bass und Schlagzeug mitnehmen auf eine vielschichtig klingende musikalische Reise zu nordafrikanischer Musik, Gnawa-Rhythmen und virtuosem Jazz. Auch auf Teneriffa gibt es Klasse-Musiker zu erleben. In der alten, wunderschönen, ehemaligen Inselhauptstadt San Cristóbal de la Laguna mit dem historischen Stadtkern aus dem 16. Jahrhundert, der seit 1999 zum Weltkulturerbe der UNESCO zählt, etwa. Im über 100 Jahre alten Teatro Leal spielen Saxofonist Chris Potter, Pianist Brad Mehldau, Kontrabassist John Patitucci und Schlagzeuger Jonathan Blake groß auf, wenn auch ohne viel Abenteuerlust und immer ein wenig vorhersehbar. Das trifft auf Cécile McLorin Salvant sicher nicht zu. Denn ihre Sets, die sie an einem Abend spielt, die gestaltet sie spontan, auch auf der Bühne. Da muss ihre erstklassige Band auch mal blitzschnell um- und mitdenken. Ihr Konzert in Santa Cruz de Tenerife, im ältesten Theater der Kanaren, dem Teatro Guimerá aus dem Jahre 1851, lebt von diesen spontanen Einfällen. Da singt sie Jazzstandards, Musik von Gregory Porter oder Gretchen Parlato und am Ende den großen Hit der chilenischen Folklore, „Gracias a la vida“. Und wie sie all diese Songs ganz individuell mit ihrer Wahnsinnstimme einfärbt!
 
Und dann sind da noch die kostenlosen Open Air-Konzerte am Santa Ana-Platz im Herzen der zauberhaften Altstadt von Las Palmas, die immer ein großes Publikum anziehen. Da müssen die Musiker liefern. Der nigerianische Sänger und Gitarrist Adédèji tat das mit seinem mitreißenden Afro-Funk, die feurige serbische Sängerin und Blues-Gitarristin Ana Popovic am Abend darauf ebenfalls. Auch US-Jazztrompeter Theo Croker spielte mit seiner Band auf dieser großen Bühne. Und er spielte ein packendes, intensives Set, das man dann aber doch vielleicht lieber in einem ruhigeren Umfeld in einem Theater oder Club gehört hätte.
 
Text: Christoph Giese; Fotos: @canariasjazz


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Malta Jazz Festival 2024
 
Valletta, Malta
 
Heiß ist es auf Malta im Sommer. Ziemlich heiß sogar. Wie gut dass da einige Konzerte des diesjährigen Malta Jazz Festival im Stadttheater von Valletta stattfinden. Die dortige Klimaanlage funktioniert nämlich bestens und ist fast schon ein wenig zu kalt eingestellt. Aber dennoch wärmt die Brasilianerin Mônica Salmaso sogleich die Herzen der vielen Zuhörer im heruntergekühlten Saal. Denn die Sängerin aus São Paulo, die lyrische Stimme Brasiliens, berührt einfach unweigerlich die Seele mit ihren Interpretationen alter Sambas und Walzer oder Musik des berühmten brasilianischen Klassik-Komponisten Heitor Villa-Lobos. Mit Teco Cardoso an verschiedenen Blasinstrumenten und Pianist Nelson Ayres an ihrer Seite zeichnet Salmaso gefühlvolle, oft zurückgenommene, aber durchaus auch mal beschwingte Bilder von zeitlos schöner, intensiver, poetischer brasilianischer Musik.
 
Die beiden Hauptabende des Festivals fanden wieder open air direkt am Grand Harbour von Maltas Hauptstadt Valletta statt. Eine wunderschöne, einzigartige Location, was auch die dort auftretenden Musiker nicht unkommentiert ließen. So wie etwa Tenorsaxofonost Walter Smith III, der mit seinem exzellenten Quartett mit Pianist Danny Grissett, Bassist Joe Sanders und Drummer Bill Stewart auf Malta seine Europatour startete. Und die vier Amerikaner begeistern auf der geschichtsträchtigen Mittelmeerinsel mit ihrer modernen Umsetzung von Jazztradition, mit nach vorne drängendem Spiel, mit spannenden rhythmischen Eskapaden, aber auch balladesken Momenten voller Intensität. „The real cats“ würden jetzt nach ihm die Bühne betreten, meinte Smith III noch ehrurchtsvoll, bevor er sein umjubeltes Konzert beendete. Und er meinte damit den Auftritt von Something Else!, einer echten Allstar-Band unter der Leitung von Altsaxofonist Vincent Herring. Denn mit Tenorsaxofonist Wayne Escoffery, Trompeter Jeremy Pelt, Pianist Dave Kikoski, Gitarrist Paul Bollenback, Bassist Essiet Okon Essiet und dem kurzfristig für Lewis Nash eingesprungenen Drummer Joris Dudli sind nur klangvolle Namen der Jazzszene in diesem illustren Ensemble mit dabei, das eine Soul Jazz Revue verspricht – und abliefert. Mit funkigen Grooves, heißlaufenden Soli und Hits aus vergangenen Zeiten, die man zumindest teilweise so sicher noch nicht gehört hat, wie etwa die Version von John Coltranes Ballade „Naima“. Dieser wahnsinnig gut gespielte Soul Jazz hat Tanzpotenzial und erweist sich als genau die richtige, lässige, coole Musik zu später, mitternächtlicher Stunde bei immer noch über 25 Grad Außentemperatur.   
 
Auch am Abschlussabend vom Malta Jazz Festival gibt es mitten im Konzert plötzlich Feuerwerke zu sehen und zu hören. Die Heiligen auf der Insel werden vor allem in den Sommermonaten gefeiert, ob da ein Jazzevent gerade läuft oder nicht. Manche Musiker sind erstaunt, wenn es plötzlich donnert oder bute Raketensalven den Nachthimmer erhellen, manche kennen das schon. So wie der britische Saxofonist und Keyboarder Will Vinson, der mit dem israelischen Gitarristen Gilad Hekselman und dem ersten Mal in diesem Dreier für Nate Wood mitspielenden, israelischen Drummer Ziv Ravitz das Trio Grande bildet. Kein unbescheidener Bandname, aber die drei haben´s drauf und spielen auf Malta einen immer wieder kühnen, funkigen, schwirrenden, aber auch mal leicht schwebenden Jazz, der Räume öffnet für elektronische Soundbearbeitungen von E-Gitarre und Saxofon und Aushilfsdrummer Ziv Ravitz zeigen lässt wie er das Ganze rhythmisch einzubetten weiß. Mit dem Trompeter Chief Xian aTunde Adjuah, der früher mal Christian Scott hieß, und seiner Band mit überwiegend jungen, hochtalentierten Burschen bot das vom maltesischen Gitarristen Sandro Zerafa einmal mehr exzellent kuratierte Festival zum Ausklang rockigen, groovigen, lauten Jazz, der stilistisch immer flexibel klingen will. Live-Musik im besten Sinne, bei der die spirituell angehauchten, längeren Kommentare des Bandleaders zwischendurch aber immer ein wenig irritierend wirken.
 
Text: Christoph  Giese; Fotos: Joe Smith & Michael Grech (produced by Festivals Malta)


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Funchal Jazz Festival 2024
 
Funchal, Madeira
Wenn man die Augen schließt, dann wähnt man sich ein paar Jahrzehnte zurück. Mindestens. Denn das Quartett von Emanuel Inácio entführt mit seinem Programm in die Zeit der guten alten Jazzstandards. Und der junge Bassist aus Madeira und  seine ebenfalls noch jungen Bandmitglieder vom portugiesischen Festland wissen wie man swingt und schwelgt. Mit João Ribeiro, eigentlich Schlagzeuger des Quartetts, hat die Band zudem noch einen vorzüglichen Sänger an Bord. Fragte man sich vor dem Auftritt vielleicht noch warum vier junge Musiker sich so „altem“ Jazz verschrieben haben, ist man nach dem Gig mehr erstaunt wie gut und mit wie viel Esprit und Leichtigkeit die jungen Burschen diese Musik zu interpretieren wissen.
 
Es sind lokale und nationale Musiker, die zum Auftakt des diesjährigen Funchal Jazz Festival allabendlich und bei freiem Eintritt unter freiem Himmel im kleinen, gemütlichen Stadtgarten im Herzen der Hauptstadt der Atlantikinsel Madeira spielen. Zudem finden dort im Rahmen des Festivals auch noch die Abschluss-Prüfungskonzerte der Studierenden am Konservatorium statt. So sind diese Abende im Stadtgarten jedes Mal ein feines Warm Up mit Entdeckungspotenzial für die in diesem Jahr gar vier Hauptabende im großen Santa Catarina Park von Funchal. Das mit dem Entdecken gilt auf jeden Fall auch für das zwischendurch auf der Bühne zum Quintett erweiterte Francisco Andrade Trio. Der Saxofonist aus Madeira, der portugiesische Schlagzeuger João Lencastre und der spanische Pianist Javier Galiana spielen einen drängenden, aufregenden, frischen, von Andrade komponierten Jazz. Nachhörbar auf dem beim Festival frisch veröffentlichtem, ersten Album Andrades auf dem eigenen neuen Label Timbre Melro Preto, „Linhas e Formas“. Auch Album Nummer zwei des neuen Plattenlabels aus Madeira wurde beim diesjährigen Festival erstmals vorgestellt. „Gineceu“ ist das wundervolle Werk des hörenswert aufspielenden Madeira Jazz Collective, ein Sextett einheimischer Musiker mit Format. Saxofonist Francisco Andrade ist auch hier federführend, sein Bruder, der Trompeter Alexandre Andrade, ebenfalls. Gespielt werden ausschließlich Eigenkompositionen oder Stücke des madeirensischen Komponisten Jorge Maggiore, zu hören ist packender, moderner Mainstream mit eigener Färbung. Die kann man auch Eduardo Cardinho attestieren. Denn der Vibrafonist aus Porto kombiniert die Sounds seines Vibrafons mit Klängen vom Synthesizer, hat zudem sein Sextett mit zwei erstklassigen Schlagwerkern und dem fantastischen Altsaxofonisten João Mortágua besetzt. So entsteht in Funchal rhythmisch vielschichtiger und melodisch immer interessanter und überraschender moderner Jazz
 
Bei so viel Musik mit Bezug zu Madeira oder Portugal konnte man fast ein wenig vergessen, dass Festivalleiter Paulo Barbosa immer auch Geschmack beweist bei den internationalen Künstlern, die er jedes Jahr nach Funchal einlädt. Zwei US-Klaviertrios waren es zum Beispiel dieses Jahr. Während das Bill Charlap Trio mit einem Programm gespeist aus dem Great American Songbook mit technischer Finesse und Virtuosität fantastisch unterhielt, aber doch fest in der Jazztradition verwurzelt blieb, unterstrich das Vijay Iyer Trio, warum es sicherlich zu den aufregendsten Klaviertrios im zeitgenössischen Jazz zählt. Wie Pianist Iyer, Bassist Harish Raghavan und Schlagzeuger Jeremy Dutton etwa Cole Porters weltberühmtes „Night and Day“ in einen labyrinthischen, frei groovenden und rhythmisch immer auf Risiko gespielten Song verwandelten - atemberaubend. Zwischen Jazz und Latin schon lange ein echter Meister ist Miguel Zenón. Und der Altsaxofonist aus Puerto Rico liefert in Funchal mit seinen langjährigen, kongenialen Bühnenpartnern Luis Perdomo (Klavier), Hans Glawischnig (Kontrabass) und Henry Cole (Schlagzeug) ein intensives, rhythmisch wahnsinnig variables und aufregendes Konzert ab.
 
Erstmals gab es am Sonntagabend noch ein Konzert, in Kooperation mit Melro Preto, dem neuen Verband von Musikern aus Madeira unter der Federführung der beiden Andrade-Brüder. US-Saxofonist Joshua Redman brachte die amerikanische Sängerin mit italienischen Wurzeln Gabrielle Cavassa und sein Konzeptalbum „Where Are We“ mit auf die Atlantikinsel. Amerikanische Musik aus diversen Genres, eine Erkundung der Realität der USA, Songs die Städte und Staaten thematisieren, emotional und intensiv interpretiert. Dass zur Zugabe dann noch Miguel Zenón mit seinem Altsaxofon auf die Bühne kam und zusammen mit Redman und dessen Band richtig losfeuerte – besser als mit diesem wahren Energiestoß hätte diese wunderbare Festivalausgabe nicht enden können.
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Carolina Santiago
 
#madeiraisland
#visitmadeira
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#madeiratãotua


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21. NovaraJazz
 
Durch das antike Novara zu laufen, der zweitgrößten Stadt im Piemont, nur etwa 50 Kilometer westlich von Mailand gelegen, ist wie durch die Geschichte spazieren gehen. Denn die Ligurer gründeten diese wunderschöne vorrömische Stadt mit seinen aktuell gut 100.000 Einwohnern. Und viel geschichtsträchtiges ist in Novara noch bestens erhalten. Das NovaraJazz ist so betrachtet noch ein ganz junges Festival, mit seinen 21 Jahren. Aber es ist ebenso spannend wie die Stadt.
 
Das liegt zum einen schon mal an den Spielstätten. Der Hauptspielort, das Broletto im Herzen der Altstadt, ist ein mittelalterlicher Architekturkomplex aus vier historischen Gebäuden, mit einem zentralen Innenhof. Perfekt für Open Air-Konzerte. Oder die alte, hübsche Kirche San Nazzarro Alla Costa, einen gemütlichen Spaziergang vom Stadtzentrum entfernt. Dort die bahrainisch-britische Trompeterin und Flügelhorn-Spielerin Yazz Ahmed im Duo mit dem britischen Vibrafonisten und Marimba-Spieler Ralph Wyld auftreten zu lassen - eine gute Entscheidung seitens des Festivals. Denn da saß man nun in der Kirche und lauschte den transparenten, warmen und entspannten Klangfarben von Vibrafon und Marimba, über die Yazz Ahmed schwebende, weiche Linien legte. Mit repetitiven Mustern, gesampelten Klängen und immer wieder von dezenter Elektronik durchzogen entstehen entrückte Klangwelten, die beim Zuhören minütlich mehr gefangen nehmen. Nur zwei Stunden zuvor das Duo von Gitarrist und Oud-Spieler Gordon Grdina und Schlagzeuger Christian Lillinger in Novara zu erleben – was für ein Kontrast! Der Kanadier und der Deutsche musizieren zwischen Struktur und Spontaneität, mit wieselflinken, polyrhythmischen Abenteuern des Schlagwerkers und auch mal krachend lauten, rockigen Soundideen des Gitarristen als Gegenpart dazu. Dieses Duo teilt eine musikalische Sprache mit komplexen Klangmustern, die konventionelle Erwartungen energievoll einfach wegwischt. Ein echtes Live-Erlebnis!       
 
Eng verknüpft mit NovaraJazz ist das in Novara beheimatete Produktionscenter „WeStart“, das innovative Projekte mit Musikern der italienischen Jazz- und jazzverwandten Szene initiiert oder unterstützt. Wie etwa das Dialect Quintet um Alexander Hawkins, das beim diesjährigen NovaraJazz seine allerdings nicht ganz glückliche Premiere feierte. Der britische Pianist traf erstmals auf vier junge italienische Musiker und spielte mit ihnen ein im Prinzip spannendes Programm zwischen Improvisiertem und Komponiertem. Doch auf der Bühne lief wegen technischer Dinge nicht alles wie erwünscht. Nach dem Festivalauftritt ging es jedoch direkt zu gemeinsamen Aufnahmen ins Tonstudio nach Turin. Man darf gespannt sein. Auch Programme wie „Um/Welt“ des Bassisten Marco Centasso oder „Invisible Partners“ vom ebenfalls Bass spielenden Ferdinando Romano werden vom „WeStart“-Team um Enrico Bettinello unterstützt und gefördert und zeigen in Novara dass der junge italienische Jazz interessante Musiker und Künstler zu bieten hat.
 
Einen Schritt weiter sind da schon die Drei vom Trio The Elephant. Gabriele Mitelli (Trompete, Stimme und Electronics), Pasquale Mirra (Vibrafon, Stimme und Electronics) und Cristiano Calcagnile (Schlagwerk und Stimme) liefern auf der großen Bühne im Broletto ein dichtes, packendes, vielschichtiges, wunderbar groovendes, gut einstündiges Konzert voller ineinander verzahnender Soundideen ab. Eingängige Strukturen kombiniert mit Soundexperimenten, bei dieser Band funktioniert das immer schlüssig und überzeugend.
 
Auch die Solokonzerte beim Festival boten zum Teil Aufregendes. US-Pianistin Myra Melford kombiniert im Innenhof eines alten Palastes Wucht und Feuer mit technischer Brillanz, freie Improvisation mit wunderschönen Melodielinien. Der Portugiese Rodrigo Amado entzückt im wunderschönen Arengo-Saal des Broletto solo auf dem Tenorsaxofon mit klassischen Jazzthemen von Jazzmeistern wie Sonny Rollins, die er aufbricht, dekonstruiert, in Tempo, Intonation oder Dynamik variiert und seinem Verständnis und seiner DNA als genialer Improvisator entgegenstellt. Hinreißend, intensiv, magisch.
 
Das lässt sich auch zum Auftritt von François Houle mit seinem von der Britin Kassia St. Clair geschriebenen Buch „The Secret Lives Of Color“ über die kulturelle und soziale Geschichte von Farben inspirierten Projekt sagen. Der kanadische Klarinettist und sein mit den internationalen Top-Improvisatoren Myra Melford, Gordon Grdina, Joëlle Léandre und Gerry Hemingway fantastisch besetztes Quintett setzen das Spektrum von Farben und seine historischen Verbindungen zur Musik in wieder einmal einer wunderschönen Location, dem Garten des Pfarrhauses der Kathedrale der Stadt, in abstrakte Tonbilder um. Mal nur reduziert in kleinen Duo-Besetzungen, dann wieder in gemeinsamen, vibrierenden Ausbrüchen. Ein anspruchsvoller, stellenweise mitreißender Schlussakkord eines sympathischen Festivals, das mit Wein-Degustationen nach einigen der Konzerte, zu denen für die Region typische Risottos gereicht wurden, die Sinne beim Publikum auch noch auf andere Weise anzusprechen wusste.
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Edward Roncarolo & Emanuele Meschini


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35. Schaffhauser Jazzfestival
 
Auf dem Tenorhorn exzellent verblüfft die Genfer Saxofonistin Maria Grand zusammen mit der US-Pianistin Maya Keren im großen Saal vor allem auch als unprätentiöse und unheimlich gefühlvolle Sängerin. Überhaupt versteht dieses Duo sich zauberhaft intim und berührend miteinander zu unterhalten. Mit leisen, ruhigen, sich miteinander verwebenden Tönen, die es ganz still werden lassen im immer sehr aufmerksam zuhörenden Publikum in Schaffhausen. Auch Andreas Schaerer, DER Schweizer Vokalist, überrascht beim Festival. In seinem Projekt Evolution stehen balladeske Songs im Vordergrund. Ja, Schaerer wird mit dem Mikrofon auch immer mal zur Rhythmusmaschine und imitiert mit seiner Stimme das eine oder andere Blasinstrument. Aber oft bewegt er sich als Sänger in klassischen Songstrukturen. Björn Meyer auf dem E-Bass und vor allem der Finne Kalle Kalima an der Stromgitarre dürfen diese Songs aber immer wieder herrlich aufbrechen, bei Kalima gerne in Richtung freiem Jazz und hartem Rock.  
 
Sehr hörenswert auch das Projekt Plurism des Schweizer Schlagzeugers Dominic Egli. Mit Landsmann Rafaele Bossard am Bass und 3-köpfiger Bläser-Abteilung aus Südafrika verband das Quintett kraftvollen, urbanen Jazz mit südafrikanischer Folklore, aber ohne jegliche, liebliche Klischeebehaftung. Das Duo Oxeon der Schweizer Akkordeonistin Lea Gasser und der holländischen Sängerin Sylvie Klijn kommt ebenfalls ohne Klischees aus und überzeugte mit zarten, vielsprachigen Dialogen zwischen Jazz, Klassik, Chansoneskem, Pop und dezenter Elektronik. Spannend auch das Trio Quiet Tree der Saxofonisten Simon Spiess, der mit Marc Méan an den Tasten und Drummer Jonas Ruther unheimlich dicht und bisweilen mit hypnotischer Sogwirkung aufspielte jenseits von festen Stil-Schubladen.  
 
Vier Querflötistinnen aus drei Ländern nebeneinander auf der Bühne, und daneben sitzt noch der deutsche Schlagzeuger Tilo Weber. Mit der Band Nancelot der aus Schaffhausen stammenden Flötistin Nancy Meier die Haupttage beim 35. Schaffhauser Jazzfestival zu eröffnen war schon interessant. Denn was die vier Damen und der doch oft ein wenig unterbeschäftigte Herr am Schlagzeug da abliefern, Musik inspiriert von den Zimmerpflanzen bei Frau Meier daheim, ist alles andere als volltönender Jazz. Die Flöten schlängeln sich, um im Bilde der Pflanzenwelt zu bleiben, durch luftige Notenlabyrinthe, die Brücken zwischen Kammer-Klassik und Jazz schlagen, sich dabei an komponierten Dramaturgien oft in harmonischem Satzspiel orientieren, aber auch mal verspielt und frei tänzeln. Schon interessant dieses Konzept, nach einer Weile aber doch irgendwie gleichförmig und daher ein wenig ermüdend.
 
Wie gut dass die Konzerte im Hauptspielort, dem Kulturzentrum Kammgarn, immer nur ein gutes Dreiviertelstündchen dauern. Da bleiben die Ohren bei drei Bands pro Abend frisch. Am Wochenende gibt es dann nebenan im TabTab -Musikraum in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Musik noch pro Abend jeweils zwei weitere Auftritte mit jungen Künstlern und ihren Bachelor- und Masterprojekten als Alternativangebot. Das Reinhören dort lohnte sich, Bands wie das Trio des Gitarristen Elia Aregger oder das Quintett Best Of Both Worlds spielten erfreulich erfrischend mit eigener Musik auf.   
 
Der bekannteste Name, der das diesjährige Festival auch abschloss, gehörte sicherlich Erik Truffaz. Und der Genfer Trompeter und seine Band enttäuschten das Publikum nicht. Ob es nun Filmmusik von seinen beiden letzten Kinojazz-Alben war oder andere Songs, das lyrische, beseelte Trompetenspiel von Truffaz, die so elegant groovende Musik, das ist alles zwar nichts Neues, ist auch wenig überraschend, aber einfach sehr gut gespielt. Für Truffaz-Fans ein Muss, für alle anderen allerbeste Jazz-Unterhaltung. Zu entdecken gab es vorher ja schon genug. Etwa auch die Flötistin Linda Jozefowski mit ihrer herrlich groovenden Band und ihren wunderbar fließenden Melodien. Die Tage in der hübschen, grenznah zu Deutschland und am Rhein gelegenen Stadt Schaffhausen haben wieder einmal gezeigt, wie bunt, vielseitig und gut der Schweizer Jazz klingen kann.   
 
Text: Christoph  Giese; Fotos: Peter Pfister


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Jazz à Liège
 
Lüttich
Vier Tage mit Konzerten in den schönsten Sälen von Lüttich – so wirbt Jazz à Liége vorne auf dem Cover des gedruckten Festival-Programmheftes. Und wenn man dann gleich am ersten Abend im Trocadéro landet, diesem wunderschönen, über 100 Jahre alten Cabaret-Theater im Herzen der Lütticher Altstadt, das sich beim Konzert mit dem Trio des Lütticher Pianisten Johan Dupont bis auf den letzten Platz gefüllt zeigt, dann glaubt man das mit den schönen Konzertsälen sofort. Und erfreut sich an so einem Ort an den schönen und reichhaltigen, auch mal Richtung Latin blickenden  Jazzmelodien, die das Trio mit viel Leidenschaft spielt.  
 
Auch das Forum in der Nähe der Kathedrale, im Herzen von Downtown Lüttich, ist ein alter, geschichtsträchtiger, über 100 Jahre alter Spielort. Schon deshalb ist ein Besuch dieses wunderschönen, großen Art Déco-Theater schon irgendwie Pflicht. Zwei Konzerte fanden im Rahmen des Festivals dort statt, das erste mit Snarky Puppy, das so angesagte, grammydekorierte vielköpfige US-Musikerkollektiv um Bassist und Gründer Michael League. Und da sitzt man nun komfortabel auf weichen Stühlen in einer der seitlichen Logen im zweiten Stock und lauscht den groovigen, kopfnickertauglichen, teils funkigen, fusionjazzigen Songs und fragt sich nach 20 Minuten was in aller Welt an dieser Truppe so besonders sein soll. Also raus aus dem Forum und ab zum Reflektor, einem coolen, schmalen Club mit Stehkonzerten, wo gerade der junge Trompeter Ife Ogunjobi spielt. Der gebürtige Londoner, Sohn nigerianischer Eltern und Bandmitglied beim Ezra Collective, kann mit eigener Band und seinen Verschmelzungen von Afrobeat mit hippem Jazz durchaus punkten. Noch überzeugender präsentieren sich an gleicher Stelle einen Tag später der Flötist und Saxofonist Ed Cawthorne aka Tenderlonious und sein vorzügliches Trio mit intensiver, packender Musik, die im spirituellen Jazz der 1960er und 1970er verwurzelt sich aber in Lüttich auch mal Inspiration vom Raga holt.
 
Erstmals Spielort beim Festival sind das Hôtel de Clercx und der sich darin befindliche Saal Regina Club. Das ehemalige Hotel aus dem 18. Jahrhundert bietet DJ Sets und Konzerte mit jungen, frischen Künstlern, und das alles bei freiem Eintritt. So ließ sich gratis der französische, in Genf lebende Saxofonist Léon Phal im Quintett mit seinem groovig-hippen, clubtauglichen Jazz erleben. Und der in London beheimatete, israelische Keyboarder Yoni Mayraz präsentiert ebenfalls in einem Gratiskonzert mit seiner Band absolute coole Jazzklänge. Mal spielt er dabei akustisches Klavier, dann auf dem Moog Synthesizer, aber immer eine moderne, groovende, treibende Musik.  
 
Zu einem absoluten Highlight der 33. Ausgabe von Jazz à Liège wird der Auftritt vom Daniel García Trio. Der spanische Pianist und seine beiden kubanischen Mitstreiter Michael Olivera am Schlagzeug und Reinier Elizarde „El Negrón“ am Kontrabass spielen dramaturgisch ausgefeilte Songs, die sich langsam entwickeln dürfen. Songs mit singbaren Melodien, aber komplexen Rhythmen, die Jazz mit Flamenco verknüpfen, aber auch die Tradition der Folkloremusik der Heimatstadt Garcías, Salamanca, nicht vergessen. Aus all diesen Zutaten entstehen  Stücke mit wahrer Sogwirkung. Mit tänzelnden Rhythmen und Melodien, einem genialen Zusammenspiel von Klavier und Schlagzeug, und dem auch optisch in der Mitte der beiden Kollegen platzierten Kontrabass, der die sprudelnden Ideen von García und Olivera mit seinem sonoren Spiel perfekt miteinander verbindet.
 
Jazz à Liège begeistert mit seiner Bandbreite. Und stellt mit dem in Brüssel lebenden, Tunesier Wajdi Riahi und seinem Trio einen spannenden Pianisten vor, der in Belgien gerade ziemlich angesagt ist mit seinem ganz persönlich klingenden Spiel, das sich aus seinem tunesischen Erbe speist. Und Lüttich präsentiert in diesem Jahr mit Maїna aus dem Senegal und der in Brüssel lebenden Adja zwei junge, hörenswerte Sängerinnen, deren musikalische Wurzeln nicht einmal im Jazz liegen. Aber das ist dem erfreulich jungen Publikum bei diesem Festival anscheinend ohnehin egal, fast alle Konzerte waren sehr gut besucht. Und wie hätten die vier Tage Musik in Lüttich besser ausklingen können als mit John Coltranes Meisterwerk „A Love Supreme“, das die US-Saxofonistin Lakecia Benjamin am Sonntagabend zu später Stunde vor Energie berstend als allerletzte Nummer regelrecht zum Glühen bringt.     
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Charlotte Bonfré


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53. Internationale Jazzwoche Burghausen 2024
 
Der eine oder die andere taten es schon eine Weile. Aber die allermeisten brauchten erst die Aufforderung von Alex Wilson zum Tanzen, bevor sie sich von ihren Sitzen in der gut gefüllten Wackerhalle erhoben. Eigentlich seltsam, denn die Musik des Projektes „Routes“ des Schweizer Posaunisten Samuel Blaser lädt zu Bewegung geradezu ein. Schaut er mit seinem Instrumental-Sextett, das dann und wann von Gastsängerin Caroll Thompson ergänzt wurde, doch vom Jazz aus Richtung Reggae und Ska. Und zu diesen Rhythmen lässt sich bekanntlich gut tanzen. Keyboarder Alex Wilson hält die Band zusammen, ein feines Rhythmusduo mit Bassist Ira Coleman und Drummer Edwin Sanz sorgt für die typischen Beats, während sich Saxofonist Soweto Kinch und Bandleader Blaser so richtig schön austoben und ausformulieren können, wenn sie nicht gerade mal den Unterbau liefern für rockige Soli von Gitarrist Alan Weekes. Ein herrlich leichtes, beschwingtes Vergnügen, das zumindest am Konzertende den Saal zur Tanzfläche machte und selbst Gershwins „Summertime“ zauberhaft in die Karibik überführte.   
 
Auch bei Keziah Jones tanzt am Ende der ganze Saal. Und der Nigerianer selbst auch. Was zu Konzertbeginn alles noch nicht zu erahnen war. Denn da sitzt der Sänger und Gitarrist aus Lagos allein auf einem Hocker auf der Bühne um nur mit Stimme und Gitarre und seinem intensiven Gesang und perkussivem Gitarrenspiel das Publikum erst einmal in seinen Bann zu ziehen. Dann gesellt sich sein Trio hinzu. Es wird elektrifizierter, bluesiger, funkiger. Sein „Blufunk“ kommt auf Touren, der Puls der Musik hämmert, die Riffs sind scharf. Ekstatischer Afrofunk. Mit einer funkig schwingenden Version von Bob Marleys „War“ schickt er in der Zugabe sein tanzendes Publikum mit einer Message nach Hause, die zwar einst auf Afrika gemünzt war, aktuell aber traurige Aktualität in vielen Winkeln der Erde ist.  
 
Warum Ana Carla Maza derzeit so gehypt wird, zeigt die Kubanerin in Burghausen. Denn die aparte Cellistin und Sängerin ist ein echtes Showgirl, eine Künstlerin voller Energie, ab und an sogar ein wenig überdreht, die auch ihr Cello beim Spielen gerne mal energisch zupft und herumwirbelt. Sonniges, karibisches Flair und Leichtigkeit verbreitet sie mit ihrem Trio in der großen Wackerhalle, ein paar Kuba-Klischees bedient sie allerdings auch. Am Ende tanzen wieder alle und sind zufrieden. Das passt zum Projekt Black Lives – From Generation To Generation eher nicht. Ein namhaftes Künstlerkollektiv mit DJ, Spoken Word-Artist, zwei Sängerinnen und Musikern wie Bassist Reggie Washington, den Schlagzeugern Marque Gilmore und Gene Lake, Tastenmann Grégory Privat oder den Gitarristen Adam Falcon und David Gilmore möchten mit diesem Projekt an den immer noch vorherrschenden Rassismus in der Gesellschaft und vor allem in der schwarzen Welt aufmerksam machen. Mit heißen Saxofonsoli, gedreschten Schlagzeug-Beats, HipHop-Samples und souligen, balladesken Gesängen und der einen oder anderen eindringlichen Message. Ein krasser Gegensatz zu Ana Carla Maza direkt davor, aber ein wichtiges Statement, auch seitens der Veranstalter der Internationalen Jazzwoche Burghausen.   
 
Das Publikum in der alten Herzogsstadt in Oberbayern ist bislang durchweg ein älteres. Ein in diesem Jahr erstmals im Jugendzentrum der Stadt veranstalteter Abend mit zwei jungen, poppigen Bands sollte daher vermehrt auch junge Interessierte anlocken - was funktionierte. Und auch die „Jazz Night“, die jährlich in der Samstagnacht während des Festivals in der Altstadt in diversen Lokalen mit einem bunten Programm stattfindet, lockte ein buntgemischtes und auch jüngeres Publikum an. Mit dem Nachwuchs-Jazzpreis, den dieses Mal der solo auftretende italienische Pianist Simone Locarni gewann, präsentiert das Festival seit 14 Jahren ohnehin schon eine Plattform für junge Jazzer. Und auch der lange, das Festival abschließende Sonntagnachmittag im Stadtsaal unter dem Motto „Next In Jazz“ mit drei jungen Bands ist eine Veranstaltung zu der hoffentlich in Zukunft auch vermehrt  junge Menschen kommen. Um sich von der schon unglaublich reif aufspielenden Saxofonistin Emma Rawicz aus London und ihrer Klasse-Band mit schönen Kompositionen und Melodien verwöhnen zu lassen. Oder sich an der Münchner Frauencombo SiEA (lediglich der Schlagzeuger des Septetts ist ein Mann) zu erfreuen, die neue musikalische Wege sucht, bei denen der Jazz neben Indie und Pop und optischem Glamour nur ein Teil des Ganzen ist.
 
Text: Christoph  Giese; Fotos: Frank Rasimowitz & Rainer Ortag


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Nordlysfestivalen – The Northern Lights Festival 2024
 
Tromsø, Norwegen
 
Der Wind bläst heftigst, der Regen knallt einem beim Verlassen des Flughafengebäudes gleich ins Gesicht. Schon der Anflug auf Tromsø war alles andere als angenehm mit all den Turbulenzen in der Luft. Ja, der Winter ist auch in Nordnorwegen nicht immer planbar. Keine traumhafte Winterlandschaft, die einen begrüßt, sondern Schmuddelwetter. Aber zwei Stunden später ist die Welt gefühlt wieder in Ordnung. Man sitzt bequem im Großen Saal des Kulturhauses der Stadt und lauscht den folkpoppigen, eingängigen Songs über Liebe und Leben der Singer-Songwriterin Marit Larsen, die sie mit einem Gitarristen an ihrer Seite und dem Streichquartett Ensemble Noor vorträgt. Larsen wurde schon in den 1990er Jahren berühmt als ein Teil des Duos M2M. Solo hat es die Norwegerin, die vielleicht ein bisschen zu viel plaudert bei ihrem Auftritt, und dann noch ausschließlich auf Norwegisch, ebenfalls zu großer Bekanntheit gebracht, auch international. Kein Wunder dass der Saal voll ist und alle am Ende total begeistert sind, auch wenn das gut einstündige Konzert wenig Abwechslung bietet.
 
Aber das Festival tut es, denn es hat weit mehr als nur Konzerte im Programm. So gibt es experimentellen Tanz oder ein intimes Schauspiel im Duo-Format, eine Musikerin und eine Schauspielerin, mit elektronischer Musik und Visuals, das die Verfolgung von Hexen und Zauberern im 17. Jahrhundert in der nordnorwegischen Provinz Finnmark zum Thema hat. Und dann spielen auch noch die Sex Magick Wizards in einem kleinen Club. Ein wildes norwegisches Quartett um den Sänger, Gitarristen und Komponisten Viktor Bomstad. Inspiriert von einem Sami-Gedicht erlebt der Zuhörer ein punk-rock-jazziges, energiegeladenes Werk, mit experimentellem Joiken (dem traditionellen samischen Gesang), elektronisch verzerrten Vokaleinlagen, knallenden und spannenden Schlagzeugbeats, fetten E-Bass-Läufen und pointierten Flöten- und Saxofonlinien. Auf Konzertdauer erschlagen die Norweger ein wenig mit ihrem durchweg hohen Energielevel. Aber diese Band ist mit ihrer ungewöhnlichen Mischung eine echte Entdeckung!
 
Eine Entdeckung - das ist auch das Projekt Kaipu vom Nordnorsk Jazzensemble zusammen mit dem norwegischen Trompeter Arve Henriksen. „Kaipu“ bedeutet Sehnsucht, und das Konzertprojekt, das über mehrere Jahre erarbeitet wurde und jetzt in Tromsø seine Premiere feierte, beleuchtet die Kultur und die Musik der Kven, einer ethnischen, baltisch-finnischen Minderheit in Norwegen. Im Foyer eines Theaters sitzen die acht beteiligten Musiker in einem großen Kreis, das Publikum mittendrin und dicht drumherum. Schon dieses ungewöhnliche Setting und dazu der grandiose Rundum-Sound machen das Konzert zu einem Erlebnis. Und die alte, traditionelle Kven-Musik modern aufbereitet, mit jazzigen Improvisationen und elektronischen Effekten durchzogen zu hören, ist ein farbenreiches, spannendes Erlebnis.  
 
Auch das Duo Arvvas mit dem norwegischen Bassisten und Sänger Steinar Raknes und der samischen Joik-Sängerin Sara Marielle Gaup Beaska ist sehr hörenswert, präsentieren die beiden in Tromsø nur mit ihren Stimmen, dem Kontrabass, dessen Sound auch mal mit Elektronik aufgepeppt dann mehr wie eine kreischende E-Gitarre klingt, ein wunderbares Crossover-Programm mit Gesang auf Englisch und Sami-Sprache gleichzeitig und bringen dabei sehr gelungen archaische Joik-Tradition mit popfolkigem oder Americana zusammen.  
 
Seit mehr als zwei Jahrzehnten schon gibt es ganzjährig die Mitternachtskonzerte im Dom in der Innenstadt von Tromsø, die während des Nordlysfestivalen ins Festival integriert sind. Zu später Stunde der zauberhaften Sopranistin Anne-Berit Buvik zu lauschen, die von Tore Nedgård and Kirchenorgel und Klavier und Sondre A. Kleven am Saxofon sensibel begleitet wird - pures Seelenfutter. Die Akustik in der einzigen norwegischen Kathedrale aus Holz und eine der nördlichsten Kathedralen der Welt ist hervorragend, das Programm aus norwegischen und schwedischen Volksliedern, einem samischen Joik oder einem Wiegenlied genau das Richtige zu dieser späten, besinnlichen Stunde.
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Knut Åserud


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Sparks & Visions 2024
Regensburg
 
Ein 219 Jahre altes, wunderschönes Theater, das von innen an die Mailander Scala erinnert, so einen Spielort hat nicht jedes Festival zur Verfügung. Beim Sparks & Visions, das jetzt zum zweiten Mal an einem kalten Winterwochenende in Bayerns viertgrößter Stadt Regensburg stattfand, mit seiner historischen Altstadt, die zum UNESCO-Welterbe zählt, hat man so einen Spielort. Ein Traum ist alleine schon das, die Stadt, das Theater. Aber auch das Festival kann sich durchaus hören und sehen lassen.
 
Anastasia Wolkenstein hat sich im vergangenen Jahr mit der Premiere von Sparks & Visions auf für sie neues Terrain begeben. Denn eigentlich betreibt die Wahl-Regensburgerin seit anderthalb Jahrzehnten erfolgreich eine Bookingagentur für Jazz, bei der auch die ukrainische Sängerin und Musikerin Ganna Gryniva unter Vertrag ist, die die diesjährige Festivalausgabe eröffnete. Mit einem Soloauftritt, bei der sie alte ukrainische Volkslieder völlig neu interpretiert. Mit geloopter Stimme, mit gesampelten Sounds, Beats und anderen Effekten. Manchmal bleibt von einem Lied nur der Originaltext, und Ganna baut alles andere drumherum neu. Das klingt in Regensburg stellenweise sehr interessant, ist aber sicher eher ein Programm für einen kleinen, intimen Raum.
 
Das könnte man auch zu dem Duokonzert der beiden Briten, dem Pianisten Kit Downes und der Sängerin Norma Winstone, sagen. Die schon 82-Jährige Grande Dame des europäischen Jazzgesangs hätte man in dieser reduzierten Konstellation auch lieber in einem kleinen Club oder einer Bar erleben wollen mit ihrem ruhigen, zeitlosen Liedzyklus aus Kompositionen von Kit Downes und Liedern von Ralph Towner oder John Taylor. Dennoch, auch auf der großen Theaterbühne verwöhnte dieses Duo mit Feinfühligkeit, Timing und Gestaltungskraft.
 
Acht Konzerte an drei Tagen bietet das Festival, das mit einer Matinee am Sonntagmorgen und dem perfekten Abschluss mit dem Tord Gustavsen Trio endete. Denn der norwegische Pianist und seine beiden Landsleute Steinar Raknes am Kontrabass und Jarle Vespestad am Schlagzeug spielen genau die richtige Musik zu dieser für den Jazz eher ungewöhnlichen Uhrzeit. Eine meditative, hymnische. Wie diese drei Klänge in der Atmosphäre erspüren, wie sie in ihren zarten Akustikjazz feine elektronische Zutaten weben, wie sie Musik von Bach oder nordisches Volkslied zum emotionalen Jazz gestalten, wie sie 20-minütige Stücke als eine Reise voller Emotionen und Höhenpunkte inszenieren, wie Sparsamkeit gepaart mit Wärme zu einfach glücklich machenden Momenten führen – dieses magische Trio zeigt alles das in Regensburg. Und wurde dafür mit tosendem Beifall verabschiedet.
 
Überhaupt kann sich Festivalmacherin Anastasia Wolkenstein glücklich schätzen so ein begeisterungsfähiges, offenes Publikum in Regensburg vorzufinden. Das übrigens in diesem Jahr auch schon zahlreicher erschien als bei der Premiere. Ein guter Trend für ihr Festival, bei dem allerdings auch nicht alles nur glänzte. Der minimalistische Kammerjazz des eigentlich ambitionierten Projektes „Ruins and Remains“ des holländischen Pianisten Wolfert Brederode, aufgeführt zusammen mit Schlagzeuger Joost Lijbaart und den vier Streichern vom Matangi Quartet – ziemlich einschläfernd. Das estnische Temperamentbündel Kadri Voorand an Tasten, Violine, Loopmaschine und Gesang im Duo mit Landsmann und Bassist Mihkel Mälgand – ausdrucksstark wie immer, mit mitreißenden, bestens unterhaltenden Momenten, aber manchmal auch ein wenig „over the top“. Und der britische Keyboarder Alfa Mist lieferte mit seinem Quintett einen keineswegs schlechten, aber doch überraschend konventionellen Auftritt ab, der zudem auch nicht unbedingt höchst inspiriert wirkte.    
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Peter Hundert


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Brussels Jazz Festival Flagey 2024
 
Brüssel
 
Wegen der Corona-Pandemie musste es zwei Mal ausfallen, und im letzten Jahr gab es lediglich eine kompakte, viertägige Ausgabe. Jetzt endlich ging es wieder zurück zu zehn Tagen Festival. Und Maarten Van Rousselt schaut schon vor dem ersten gespielten Ton am Auftaktabend des diesjährigen Brussels Jazz Festival Flagey ziemlich zufrieden drein, sind doch schon jede Menge Veranstaltungen im Vorfeld ausverkauft. So wie das Auftaktkonzert mit dem Marcin Wasilewski Trio. Seit 30 Jahren spielt der polnische Pianist schon mit seinen beiden Landsleuten Slawomir Kurkiewicz am Kontrabass und Michal Miskiewicz am Schlagzeug zusammen. Das hört man. Traumhaft das Zusammenspiel und der gemeinsame kreative Flow, traumhaft wie sich die drei gegenseitig Räume lassen, traumhaft die so packenden, unwiderstehlichen Melodien in der Musik der Polen. Was für ein Erlebnis eines der besten Jazzpiano-Trios in dem in den 1930ern im Art Déco-Stil erbauten Flagey-Gebäude mit seiner großartigen Akustik erleben zu dürfen.
 
Ein weiterer Höhepunkt des ersten Festivalwochendes war der Auftritt des Speakers Corners Quartet. Die Londoner Band mit Geiger Raven Bush, Bassgitarrist Peter Bennie, Flötist Biscuit und Drummer Kwake Bass lädt sich gerne Gäste ein, so wie auch auf ihrem gefeierten Debütalbum aus dem letzten Jahr. In Brüssel waren es zwei Rapper und Tastenmann Joe Armon-Jones. Ihren spirituellen, mit gesellschaftskritischen Texten unterfütterten und mit ein wenig Elektronik versetzten HipHop-Jazz gestalten die Briten mit cinematischer Atmosphäre, durch bisweilen spärliche Instrumentierung, einem interessanten Zusammenspiel von Flöte und Geige, durch schleppende Grooves und Downtempo-Klänge. Ein intensives, emotionales Konzert als rundes, klug durchdachtes Kunstwerk von Anfang bis zum Ende. Ohne Zugabe, die hätte überhaupt keinen Sinn gemacht. Dafür mit Musikern, die nach dem letzten gespielten Ton selbst so ergriffen waren, dass sie sich noch auf der Bühne lange gegenseitig umarmten.   
 
Die „Carte Blanche“ der diesjährigen Festivalausgabe bekam Casimir Liberski, der  damit gleich drei Mal beim Festival auftreten durfte. Der Brüsseler Pianist, Mitte 30, hat lange in den USA gelebt, wo er auch studiert hat, und dürfte deshalb hierzulande wenigen etwas sagen. Liberski stellte sich dem Publikum solo, in einem Trio mit zwei Elektroniktüftlern und zu Beginn in einem exquisiten Wunschquartett mit den drei Amerikanern Greg Osby (Saxofon), Larry Grenadier (Kontrabass) und Nasheet Waits (Schlagzeug) vor. Dass dieses Quartett nur einen Tag Probe hatte, hörte man natürlich. Und merkte es auch beim Repertoire. Liberski komponiert selbst schöne Stücke, doch befanden sich mehr Titel von Eric Dolphy, Ornette Coleman oder Wayne Shorter in dem Programm, Stücke die alle wahrscheinlich besser kennen. Dennoch, Liberski ist ein interessanter Musiker, der Quartett-Gig war auch gut, aber nicht magisch, nicht mitreißend. Mit dem Belgier Roman Hiele sowie dem Deutschen Tolouse Low Trax (Detlef Weinreich), stand Casimir Liberski ebenfalls das erste Mal gemeinsam auf einer Bühne. Und zeigte mit mitunter minimalistischen, industriellen Sounds und viel Elektronik sein anderes Gesicht.
 
In der Lobby des Flagey gibt es zum Ausklang vieler Festivalabende hippe Combos zu hören, wie etwa das britische Trio ILL Considered. Eine typische Jazztruppe von der Insel, die mit wahnsinnig viel Energie, energiegeladenen Beats und Grooves, einem heißlaufenden Saxofonisten und freien Impro-Jams clubtaugliche Musik spielt, die sich aber nach einer Weile leider immer wieder ein wenig im Kreis dreht.
 
Das Brussels Jazz Festival Flagey zeigte sich einmal mehr als ein offenes Festival für Entdeckungen. Die italienische Bassistin Rosa Brunello war so eine, die im Quartett mit Trompeterin, Saxofonistin und Schlagzeuger und ihrem doch recht eigenständigen, groovigen Sound zwischen Akustik- und Electric Jazz, spirituellen Anklängen oder ein wenig Elektronik ziemlich zu überzeugen wusste. Und im Programmheft stand noch so einiges was man gerne hätte hören wollen, wäre man für alle zehn Tage in Brüssel. Den jungen tunesischen Pianisten Wajdi Riahi mit seinem Trio etwa. Oder die britische Band mit dem doch ungewöhnlichen Namen Work Money Death, die zumindest auf ihren Platten sehr aufregend klingt.
 
Das Festival läuft noch bis zum 20. Januar.
Infos unter: https://www.flagey.be/brusselsjazzfestival
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Cristina Vergara, Patrick Van Vlerken, Cindy De Kuyper, Olivier Lestoquoit & Studio 156


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Trans4JAZZ
Ravensburg & Weingarten

Ein wenig scheint sie selbst immer noch ein wenig erstaunt, wie ihre aktuelle Lebenssituation sich so darstellt. Die eigenen Kinder schon aus dem Haus, somit eigentlich neue Freiheiten, die sie mit ihrem Mann, dem Sänger Max Herre, für Dinge wie Reisen nutzen wollte. Stattdessen würden sie beide mehr arbeiten als zuvor, erzählt Joy Denalane beim Auftaktkonzert ihrer „Willpower“-Tour im historischen Konzerthaus von Ravensburg. Der Abend ist auch der Auftakt zur diesjährigen Ausgabe des Trans4JAZZ-Festivals in der Stadt. „Willpower“, so heißt das neue, feine Happysad-Soulalbum von Deutschlands Soul- und R&B-Stimme Nummer eins. Aber die gebürtige Berlinerin mit südafrikanischen Wurzeln und ihre mit zwei Backgroundsängerinnen bestückte Band schlagen in dem zweistündigen Auftritt auch einen Bogen zum Beginn der Karriere der heute 50-Jährigen Sängerin. Als sie ihre Soulmusik noch auf Deutsch sang. Wie den so intensiven, über 20 Jahre alten Trennungssong „Geh jetzt“. Denalane zeigt sich in Ravensburg als stimmgewaltige Soulstimme mit Attitüde, mit klarer Einstellung zu Rassismus und Ungerechtigkeiten. Aber auch als gute Unterhalterin mit Liebe zu Motown-Klängen und Jazz. Und als souveräne Künstlerin, die einige kleinere Pannen des Auftritts nebenbei auch noch ganz locker und sympathisch weglächelt und wegmoderiert.
 
Ein echter Festivalhöhepunkt war der Auftritt von Heiri Känzig´s Travelin´, und das in jeder Hinsicht. Der Spielort dieses wundervollen Konzertes: Die so gemütliche und atmosphärische Zehntscheuer in der Altstadt von Ravensburg, ein ehemaliges Lagerhaus aus dem 14. Jahrhundert. Die sechsköpfige Band: Sie wird geleitet vom Schweizer Kontrabassisten und musikalischen Weltenbummler Heiri Känzig, und es vereinen sich dort Spitzensolisten wie der so lyrisch-expressive Schweizer Flügelhornist Matthieu Michel oder der virtuose, total am Puls der Zeit aufspielende tunesische Oud-Spieler Amine M´raihi zu einer echten Einheit. Die Musik: Entzieht sich geschickt der Kategorisierung, changiert zwischen melodischem Jazz und orientalischen, krummen Metren, blickt hinaus in die weite Welt und klingt dabei so verführerisch vielfältig und aufregend. Das Besondere an diesem Abend: Die eigentliche Sängerin der Band ist erkrankt. So musste Känzig kurzfristig Ersatz finden und traf auf die fantastische Raphaëlle Brochet. Und die Französin, die hörbar jahrelang Gesang in Südindien studierte, zeigte mit ihrem fantasievollen, lautmalerischen, improvisierten, immer wieder überraschenden Gesang, dass sie den so positiv strahlenden Weltjazz dieses Ensembles komplett verstanden hat.   
 
Das diesjährige Trans4JAZZ schlug wieder einen weiten musikalischen Bogen. Mit Bands wie Fieh und GoGo Penguin und einem deutlich reduzierten „Youth Ticket“ soll vermehrt ein junges Publikum angelockt werden. Beim Oktett Fieh um die charismatische, bewegungsfreudige Sängerin und Frontfrau Sofie Tollefsbøl weiß man musikalisch gar nicht so ganz genau, wo man ist. Aber die tanzbaren, groovenden und organisch warm klingenden, süffigen Easy Listening-Songs aus Soul, Funk, Pop und Jazz der Norweger machen einfach Spaß und reißen mit. Welch ein Kontrast zum klinisch perfekten Konzert am nächsten Abend von GoGo Penguin. Alles ist bei dem so angesagten Trio aus Manchester durchgetaktet. Genau 90 Minuten Konzertdauer, jeder Song perfekt konstruiert. Überraschungen: keine. Das mag man unaufregend und auf Dauer eintönig finden. Aber die Briten haben den Bogen raus, einen akustischen Jazzklaviertrio-Sound durch elektronische Erweiterungen und minimalistische Melodiekürzel und frickelige Drumbeats zu hypnotischen, soghaften Klanglandschaften anwachsen zu lassen.
 
Den Briten Oscar Jerome für den Ausklang des fünftägigen, bunten Festivals zu buchen war eine perfekte Idee des so engagierten Trans4JAZZ-Teams um Programmmacher Thomas Fuchs. Denn der Sänger und Gitarrist aus Norwich lockte noch mal viele junge Menschen an, um mit seiner von Congas, Schlagzeug und E-Bass unaufhörlich angetriebenen coolen Musik zwischen Soul, Funk und NuJazz für beste Stimmung und zumindest wippende Füße zu sorgen.
 
Text : Christoph Giese; Fotos: Hans Bürkle


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Tampere Jazz Happening 2023
Tampere, Finnland
 
Kristallklar klingen die Noten von ihrem Instrument. Alina Bzhezhinska und ihr fünfköpfiges HipHarp Collective mit dem vorzüglichen Saxofonisten Tony Kofi bezirzt das Publikum in Tampere vom ersten Ton an. Weil die Harfenistin auf der einen Seite schon noch ihren beiden Idolen auf der Jazzharfe, Alice Coltrane und Dorothy Ashby, huldigt, auf der anderen Seite aber ihre eigene Klangsprache einbringt und sie den Rahmen dessen was mit einer Harfe im Jazz improvisatorisch so möglich ist aufregend ausdehnt. Etwa in ihren Interaktionen mit dem Saxofon von Tony Kofi. Das große, sperrige Instrument ist zwischen den Händen der in London lebenden, gebürtigen Ukrainerin eine präsente, aufregend freigeistige und sehr gestalterische Stimme.
 
Eine weitere bärenstarke Stimme auf dem Saxofon ist die von Fabian Dudek, der im zweiten Teil einer deutschen Nacht beim Tampere Jazz Happening mit dem Quartett Dudek-Hauptmann-Goller-Berger begeistert, auch wenn Drummer Leif Berger wegen Erkrankung kurzerhand ersetzt werden musste. Ganz canceln musste gar die Band Salomea der Sängerin Rebekka Salomea, bei der Berger auch mittrommelt. Jedes Jahr legt das Festival in Tampere einen Abend lang das Scheinwerferlicht auf ein Gastland, dieses Mal war es Deutschland. Und während Sängerin und Musikerin Kira Hummen mit ihrem Trio den Langeweile-Faktor nur schwerlich ablegen konnte, zeigte sich dieses neu formierte Quartett um Fabian Dudek als hochenergetische, jederzeit mitreißende Einheit, die kompositorische Vorlagen als Ausgangspunkt nutzt für errende frei Improvisationen.
 
Und es gab noch mehr Bands mit deutscher Beteiligung zu hören in Tampere. Das urgewaltige Quartett KUU! etwa, das mit wilder Jazz-Punk-Rock-Attitüde Genregrenzen einfach wegwischt. Oder die zauberhafte Pianistin Julia Hülsmann mit ihrem Quartett. Oder ganz zum Abschluss der Posaunist Janning Trumann mit seinem Trio-Projekt X Nosacrum und einem ziemlich frei improvisierten Set aus Posaune, Schlagzeug und Electronics.   
 
Mit der schon lange in London lebenden, gebürtigen Nigerianerin Camilla George und dem US-Amerikaner Marcus Strickland standen am vorletzten der insgesamt vier Festivaltage zwei Mal Saxofon mit jeweils eigenen Bands direkt hintereinander auf dem Programm. George sucht schon seit längerem musikalisch nach Verbindungen zu ihren nigerianischen Wurzeln, ist als junge Frau in England aber auch mit HipHop aufgewachsen. So klingt ihre Musik in Tampere mit Rapperin Sanity mal modern nach Straße, schielt aber auch nach Afrika rüber. Das alles  gefällig und sehr schön, aber leider erst am Ende des Sets mit mehr Biss. Spirituell und wesentlich packender klang da anschließend Marcus Strickland´s oft von einer Hammondorgel angetriebene Band Twi-Life.
 
Südafrikanisches Flair verströmte Pianist Nduduzo Makhathini mit seinem Trio. Der südafrikanische Pianist und Sänger ist viel mehr als ein Musiker, seine viel zu lange, philosophische Rede mitten in seinem gut einstündigen Set riss aber nicht nur aus der sehr schönen, teils hymnischen, beseelten Musik, sondern war auch nur schwer wirklich inhaltlich zu verstehen. Was man alles ohne große Worte in seine Musik packen kann, das zeigte das Goran Kajfeš Subtropic Arkestra. Die Band des schwedischen Trompeters mit kroatischen Wurzeln mischt so viele Stile so schlüssig zu einer sehr unterhaltsamen Mischung zusammen, dass es einfach eine Freude ist, diese Band live zu erleben.
 
Den bedeutenden Yrjö-Award des finnischen Jazzverbandes bekam in diesem Jahr übrigens die Saxofonistin Linda Fredriksson in Tampere verliehen. Und zahlreiche weitere finnische Musiker wie Trompeter Verneri Pohjola, Saxofonist Jimi Tenor oder Bands wie Laurell & Sun Dog machten das diesjährige Tampere Jazz Happening zu eben genau dem, einem Ereignis.
 
https://tamperejazz.fi/en/
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Maarit Kytöharju & Riika Vaahtera


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NUEJAZZ 2023
 
Nürnberg
 
Er hat den Konzertflügel ganz nach rechts auf der Bühne rücken lassen. Um seinen Bassisten Joe Sanders sehen zu können muss Gerald Clayton schon den Kopf ein ganzes Stück nach hinten links schwenken. Der wahnsinnig kreativ Akzente setzende Drummer Jeff Ballard sitzt gar ganz im Rücken des Pianisten. Aber mit diesem Bühnen-Setting hat Sanders den besten Blick auf die linke Hand des Pianisten. Und so lässt sich traumwandlerisch zusammenspielen. Und genau das tun die drei US-Amerikaner in einem gut einstündigen Set mit ihrer zeitlos schönen Jazzmusik. Mit einem sensiblen Anschlag von Gerald Clayton, wie man ihn im Jazz nicht so oft hört. Mit Klangsinnlichkeit und herrlich spontanen Interaktionen. Mit tief empfundenen Gefühlen, die wunderschön in Noten gepackt werden. Und das alles mit keiner Note zu viel. Hier geht es nur um die Essenz der Musik. Weniger ist bei diesem Trio mehr. Ein magischer Auftritt.
 
Direkt vor dem Gerald Clayton Trio stand Landsfrau Lakecia Benjamin auf der Bühne. Und die extrovertierte, im silbernen Glitzerfummel gekleidete Altsaxofonistin ist das genaue Gegenteil des Pianisten. Sie stürmt gleich mal an den Bühnenrand und schreit dem Publikum entgegen, was es zu erwarten hat: eine Party. Das Dach soll vom Gebäude fliegen. Und dann geht es mit ihrem Quartett los: High Energy-Jazz im Geiste und sogar aus der Feder von John Coltrane, dessen Name sie später auch noch mehrfach durch den Saal brüllt. Das ist stark gespielt, ihre Band ist klasse, aber ihre Bühnenattitüde muss man schon mögen. Musikalisch präsentiert sie sich mit ihrer expressiven, spirituellen Musikentrückung und ihrer politischen Haltung jedoch als starke Künstlerin, die was zu sagen hat.  
 
Das NUEJAZZ feierte in diesem Jahr sein rundes Jubiläum. Zehn Jahre Jazzfestival, dafür gibt es von der Stadt Nürnberg sogar den Kulturpreis verliehen. Die beiden Macher Frank Wuppinger und Marco Kühnl haben ein sehr schönes und vielfältiges Festival auf die Beine gestellt, das für den Jazz erstaunlich viele junge Leute anzieht. Das liegt sicher auch an den coolen Konzertorten wie dem historischen Z-Bau, einst von den Nazis als Kaserne gebaut, aber natürlich in erster Linie am Programm. Denn das bietet Musik für viele Geschmäcker. Coole Künstler wie den amerikanischen Bassisten und Sänger MonoNeon etwa, der schon optisch mit seiner Kleidung und Kopfbedeckung ein Kunstwerk ist. Und der mit seinem knackigen, deutlich von Prince inspirierten Funk, mit rockiger Attitüde und seinem ungewöhnlichen Basspiel und schrägen Bassläufen vor der Bühne für Gedränge und Begeisterung sorgt. Das Berliner Sextett Make A Move bringt sogar 1.000 Leute im großen Saal des Z-Bau zum Hüpfen mit einer von gleich drei Bläsern angetrieben Partymusik. Direkt zuvor zeigte das aus Nürnberg stammende, sechsköpfige Kollektiv Ferge X Fisherman & Nujakasha in der prall gefüllten, kleinen Galerie des großen Kulturhauses wie cool und gut man englischsprachigen HipHop mit lässigen Beats und Jazz zusammenbringen kann.     
 
Eine Vinyl-Lounge am zweiten Hauptspielort, der Kulturwerkstatt Auf AEG, gibt diversen DJs die Möglichkeit aufzulegen und dem Publikum einen Ort zum Chillen. Und junge Bands aus der Umgebung und der Region locken im kleinen Saal der Kulturwerkstatt bei freiem Eintritt Neugierige an. Bei solch einem bunten Angebot ließt es sich auch verschmerzen, dass der Auftritt des US-Amerikaners Cory Henry und seinen an diesem Abend nur mittelprächtig aufspielenden Funk Apostles im Z-Bau zwar stark begann, dann aber wenig aufregend weiterging.
 
https://www.nuejazz.de/
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Leon Greiner


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Vilnius Jazz 2023
Vilnius, Litauen
 
Was für eine Magie! Was für eine musikalische Reise! Welche betörende Rhythmen und auch Melodien! Welch Kreativität zwischen Avantgarde-Jazz und afrikanischen Trommel-Traditionen bringen dieser Famoudou Don Moye und sein Odyssey & Legacy Quintet auf die Bühne des altehrwürdigen Alten Theaters von Vilnius. Und der Funke springt über auf das total begeisterte Publikum. Aber wie kann diese Mischung des legendären Schlagzeugers aus Rochester, New York, der unter anderem als Mitglied des Art Ensemble Of Chicago Jazzgeschichte mitschrieb, einen nicht packen beim Zuhören! Dieser Mix aus rituellem Trommeln, spirituellem Gesang, Jazzfragmenten und herrlich swingenden Momenten ist zu verführerisch, die Bandmitglieder wie der senegalesische Trommler und Sänger Dudu Kouaté oder der Franzose Simon Sieger, der Klavier ebenso grandios spielt wie Posaune und auch diverse Perkussionsinstrumente beherrscht - einfach ein Traum. Dass dieser zweite Festivalabend des 36. Vilnius Jazz auch noch mit einem Solo-Schlagzeugkonzert des Litauers Marijus Aleksa beginnt, dürfte Trommelfans restlos beglückt haben. Denn Aleksa, der vor seinem Auftritt den diesjährigen „Vilnius Jazz Annual Award“ überreicht bekam, nimmt die Zuhörer ebenfalls mit auf eine weite musikalische Reise, die auch Afrika streift. Und trommelt dabei sehr differenziert. Kein lautes Show Off, darüber viel Spielen mit den Mallets, raffinierte Rhythmusmuster, klug zusammengestellte Klangwelten.
 
Spirituell geht es auch bei dem neuen Trio vom britischen Saxofonisten Shabaka Hutchings, dem marokkanischen Guembri- und Kalimba-Spieler und Sänger Majid Bekkas und US-Drummer Hamid Drake zu, basiert die Musik dieses Trios doch auf der Gnawa-Musik Marokkos. Vor allem dann wenn Bekkas emotional singt zu seinen pointierten Guembri-Klängen. Aber auch Hutchings, der neben dem Tenorsaxofon zu einer ganzen Vielzahl unterschiedlicher (Bambus-)Flöten greift, zeigt sich in dieser Konstellation von einer sehr spirituellen Seite. Das Bindeglied in diesem spannenden Dreier zwischen Gnawa, Black Soul und Contemporary Jazz ist der auch optisch genau in der Mitte seiner beiden Kollegen platzierte Hamid Drake, der alles mit äußerst kreativen Rhythmusmustern begleitet, auffüllt, kommentiert, zusammenhält.
 
Hörenswertes gab es noch so einiges beim diesjährigen Vilnius Jazz zu erleben. Etwa das Solopiano-Konzert von Brian Marsella. Mit einer satten Stunde ist es vielleicht ein klein wenig zu lang geraten, denn nicht immer erzählt der US-Amerikaner Spannendes auf dem schwarz-weißen Tasten. Aber oftmals eben doch, dann entpuppt er sich in Litauens wunderschöner Hauptstadt immer wieder als ideenreicher Kreativgeist. Der litauische Saxofonist Liudas Mockũnas zeigt im Duo mit dem schwedischen Holzbläser Mats Gustafsson und später erweitert als Quartett mit US-Bassist Tom Blancarte und dem dänischen Schlagwerker Christian Windfeld einmal mehr welch kraftvoller, ausdrucksstarker und fantasievoller Improvisator er doch ist. Als Gast für ein Stück gesellt sich Mockũnas am letzten Festivalabend auch noch zum fabelhaften Quartett des portugiesischen Schlagzeugers Mário Costa, dessen Free Swing nicht nur mit interessanten rhythmischen und klanglichen Strukturen begeistert, sondern den Bandkollegen Benoȋt Delbecq (Piano & Synthesizer), Bruno Chevillon (Kontrabass) und Cuong Vu (Trompete) auch die Räume öffnet für Konversationen untereinander, für ihre ganz individuellen musikalischen Statements. Und der Nachwuchswettbewerb „Vilnius Jazz Young Power“ warf wie jedes Jahr ein interessantes Licht auf die junge litauische Jazzszene. Und die traut sich auch mal Ungewöhnliches. Der diesjährige Gewinner des Wettbewerbs, Tuba-Spieler Mikas Kurtinaitis, verband in seinem kurzen Soloauftritt gleich drei weitere im Konzertsaal an unterschiedlichen Stellen platzierte Tuben mit langen Schläuchen miteinander und konnte so alle Instrumente mit dem in seinem Arm ansteuern.
 
Zudem bewies Festivalorganisator Antanas Gustys auch in diesem Jahr einmal mehr sein untrügliches Gespür für die Zusammenstellung von einzelnen Konzertabenden. Das großartige Trio North der explosiven, energiegeladenen, körperlich spielenden dänischen Altsaxofonistin Mette Rasmussen, deren Impro-Jazz nach ein paar Minuten Anlaufzeit seine Faszination und volle Wucht entfaltete, direkt vor dem Louis Sclavis Quartet den Festivalsonntag bestreiten zu lassen, diese Idee funktionierte wunderbar. Ist doch auch der französische Klarinettist ein ausdrucksstarker Holzbläser, ein starker Improvisator, dessen immer wieder auch ein wenig folkloristisch gefärbte, ansonsten kühn-forsche Musik schon allein durch die Besetzung seiner Band mit einem Pianisten, dem fantastischen Benjamin Moussay, allerdings deutlich song- und melodieorientierter ist.
 
https://www.vilniusjazz.lt/
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Vygintas Skaraitis & Greta Skaraitiene


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PUNKT Festival 2023
Kristiansand, Norwegen
 
Könnte das eine neue Supergroup werden? Vielleicht. Das Debütkonzert dieses polnisch-norwegischen Vierers, einen Bandnamen gibt es (noch) nicht, klang am Auftaktabend des diesjährigen PUNKT-Festivals jedenfalls schon mal ziemlich aufregend. Der polnische Saxofonist Maciej Obara und der norwegische Bassist Ole Morten Vågan machen zwar schon einige Jahre immer wieder gemeinsam Musik, aber im Quartett mit den beiden Norwegerinnen Anja Lauvdal (Tasteninstrumente) und der jungen Veslemøy Narvesen (Schlagzeug) war es eine absolute Premiere. Und wie vier Kreativgeister auf der Bühne des Teateret sich auf Klangsuchen begeben, wie sie aus bruchstückhaften Elementen immer wieder einen musikalischen Fluss zaubern, frisch und einfallsreich klingend - es machte viel Spaß da zuzuhören.
 
Zuvor gab es schon eine polnisch-norwegische Premiere in Kristiansand zu erleben. Und auch das Duo der Pianistin Joanna Duda und des Hardangerfiedel-Spielers Erlend Apneseth hat durchaus das Potenzial für eine Fortsetzung, fanden beide wunderbare Wege der Kommunikation zwischen ihren Instrumenten. Dass beide Konzerte anschließend noch von Studenten eines polnisch-norwegischen Live Remix-Workshops bearbeitet wurden, rundete dieses Zwei-Länder-Projekt am ersten Abend ab. Hinter dieser Zusammenarbeit steckt übrigens HILO, eine norwegisch-polnische Plattform für „New Music Development“ und Kollaborationen zwischen norwegischen und polnischen Musikern, Kuratoren oder Organisatoren. Magisch war übrigens auch die dritte norwegisch-polnische Kombination, ebenfalls eine Premiere. Die vier Streicher vom Lutoslawski Quartet trafen auf die beiden Masterminds von PUNKT, Jan Bang und Erik Honoré, sowie den Trompeter Arve Henriksen. Stilistisch offen und sehr freigeistig unterwegs schichten die Polen Klänge wunderbar aufeinander. Und wie die drei Norweger diese verarbeiten, kommentieren oder ergänzen, spontan und kreativ, aber auch mit Seele und Feingefühl, das verzückte einfach als Gesamtkunstwerk.
 
Und es gab noch so viele weitere memorable Momente beim diesjährigen PUNKT. Etwa der sehr berührende musikalische Tribut eines exquisiten Quintetts mit den beiden Festivalmachern Jan Bang und Erik Honoré an den im letzten Jahr verstorbenen, norwegischen Poeten Nils Christian Moe-Repstad, der jahrelang eine Verbindung zum Festival hatte. Das Konzert der norwegischen Hardangerfiedel-Spielerin Benedicte Maurseth mit ihrem Quartett. Der Auftritt von Skúli Sverrisson mit zwei Landsleuten und neuen, beseelten Kompositionen des isländischen Bassgitarristen, die atmosphärisch ausgeleuchtet im Theatersaal für eine verzaubernde Stimmung sorgten. Und natürlich der Album Release von „Last Two Inches of Sky“ am letzten Festivalabend, die nagelneue, zweite CD des Duos von Sample-Künstler Jan Bang und Gitarrist Eivind Aarset auf dem eigenen Punkt Editions Label. Live präsentiert mit Arve Henriksen, Bassist Audun Erlien, Drummer Hamid Drake und am Ende auch mit Sängerin Sophye Soliveau zeigt diese Musik die ganze Bandbreite und Offenheit der Beteiligten. Hier geht es nicht um einen musikalischen Stil, sondern um Klang- und Songwelten. Und wenn das Ganze live auch mal kurzfristig mal Richtung Jamaika blinzelt, dann ist das auch wieder nur eine Facette des faszinierenden Soundkosmos der Norweger und ihrer Gäste.        
 
Gerade schon erwähnt: Hamid Drake, der legendäre US-Schlagzeuger. Bevor er überhaupt das erste Mal seine Drumsticks auspackte in Kristiansand, stand er im großen Theatersaal vor dem Mikrofon und zeigte sich total begeistert von dem Live Remix-Konzept dieses in der Tat einzigartigen Festivals. Und machte deutlich dass man sich als Musiker eines Remixes erst einmal zurücknehmen und in sich hineinhören muss, alles vergessen sollte, was man glaubt musikalisch zu wissen. Wie man das umsetzt, zeigte er später eindrucksvoll mit dem jungen norwegischen Soundtüftler Even Sigurdsen Røstad und dem gemeinsamen Remix des direkt zuvor stattgefundenen Konzertes des Lutoslawski Quartetts. Røstad lieferte die Soundscapes, immer wieder herrlich durchdrungen von Originalklängen des Konzertes. Und Drake kommentierte am Drumset diesen oft wilden Soundkosmos mit seinem wahnsinnig einfallsreichen Schlagzeugspiel. Der Amerikaner hat die Essenz von PUNKT auf den selbigen gebracht, mit seinen Worten und seiner fantastischen Trommelkunst.
 
https://punktfestival.no/

Text: Christoph Giese; Fotos: Petter Sandell & Alf Solbakken


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Kristupo Festivalis – Christopher Summer Vilnius
 
Vilnius, Litauen 2023
 
Wie er sich überhaupt auf den Beinen halten kann! Denn die Absatz der Damenschuhe, die Božo Vrećo bei seinem Auftritt in Vilnius trägt, sind nicht nur sehr schmal, sondern auch noch ziemlich hoch. Aber der Bosnier wirbelt damit über die Bühne, tanzt oder dreht sich wie ein Derwisch, als würde er Turnschuhe tragen. Respekt! Ein echter Paradiesvogel gibt da mit seiner Band ein Konzert beim Kristupo Festivalis. Ein rotes, ärmelloses Kleid trägt Vréco, dazu einen dunklen Vollbart, man wird optisch gleich an Tom Wirth alias Conchita Wurst erinnert, der als Mann in Frauenkleidern 2014 für Österreich den European Song Contest gewann. Auch der zudem noch fast am ganzen Körper tätowierte Božo Vrećo möchte sich nicht so wirklich festlegen ob er Mann oder Frau ist. In Vilnius liefert er jedenfalls eine echte Show ab. Musikalisch hat der bunte Paradiesvogel seine Wurzeln in der Sevdah-Musik, bosnischen Liebes- und Sehnsuchtsliedern. Mit engelhafter Stimme singt Vréco diese Lieder leidenschaftlich und emotional, dreht sie mit seiner dreiköpfigen Band dann aber vielleicht ein wenig zu oft in Richtung tanzbaren Balkan-Pop.
 
Ende Juni ist es gestartet und läuft noch bis Anfang September. Das Kristupo Festivalis (Christopher Summer Festival) in Litauens wunderschöner Hauptstadt Vilnius ist nicht nur das größte musikalische Sommerevent der Stadt, es bietet auch ein vielfältiges Programm. Nicht jeden Abend, insgesamt sind es in diesem Jahr 24 Konzerte zwischen Klassik, Operngala, sakraler Musik, Weltmusik und auch mal Jazz. Letzteres etwa bei den sogenannten Picknick-Konzerten bei freiem Eintritt im hübschen Bernadine-Park, direkt neben der Altstadt. Da kann man es sich dann mit Decke auf dem Boden richtig bequem machen und französischem Jazz oder den bekannten litauischen Popsängerinnen Petunija und Liucė lauschen. In der bereits im 17. Jahrhundert erbauten St. Kasimir-Kirche zeigt der junge polnische Organist Marcin Kucharczyk an der mächtigen Kirchenorgel, der besten im ganzen Baltikum, wie Festivaldirektorin Jurgita Murauskienė nicht ohne Stolz erzählt, in einem Programm mit Stücken von Bach, Samuel Scheidt oder Matthias Weckmann, wie großartig er Virtuosität mit gefühlvollem Spiel zu paaren weiß.
 
Die Kirche ist ein beliebter Spielort des Festivals, aber auch der Innenhof einer Bibliothek mitten in der pittoresken Altstadt von Vilnius. Dort spielten unter freiem Himmel auch mehrere klangvolle Namen der Pop- und Weltmusik. Etwa die Portugiesin Luísa Sobral, Sängerin, Songschreiberin, Musikerin und Komponistin des Welterfolgs „Amar pelos Dois“, mit dem ihr jüngerer Bruder Salvador Sobral 2017 den Eurovision Song Contest gewann. Ihre kunstvollen, zumeist auf Portugiesisch gesungenen Popsongs sind überwiegend glückliche Lieder an das Leben und das Lebensglück. Aber auch der Ukraine-Krieg dient als Inspirationsquelle. Es sind spezielle Lieder, nicht zwingend immer supereingängig, aber charismatisch und von einer Frau gesungen die was zu erzählen hat und das auf poetische Art und Weise tut. Dass sie sich am Ende ihres Auftritts auf Litauisch an einem Lied des bekannten, schon verstorbenen litauischen Liedermachers Vytautas Kernagis versucht – das Publikum im ausverkauften Innenhof dankt es ihr mit stürmischem Applaus.
 
Und dann war da noch Gaby Moreno mit ihrer Band. Die Singer/Songwriterin aus Guatemala, die aber schon fast zwei Dekaden in Los Angeles lebt, bietet in Vilnius Musik aus ihren beiden Welten an. Die langen Jahre in Amerika haben abgefärbt in bluesrockigen Liedern und Songs zwischen Folk und Country. Dann ist es laut, dann drängelt die E-Gitarre. Aber Moreno hat auch sanfte Lieder mit lateinamerikanischer Färbung im Programm, spielt dann sogar ein kleines Set innerhalb ihres Konzertes ganz allein nur mit ihrer Gitarre um den Hals. Und mit dem alten kubanischen Ohrwurm „Quizás, quizás, quizás“ unterstreicht sie dann noch einmal dass sie in  Lateinamerika ihre Wurzeln hat.
 
Text: Christoph Giese
Fotos: Antanas Minkevičius, Mantas Bartaševičius & Modestas Endriuška


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Turku Sea Jazz 2023
 
Turku & Seili, Finnland
 
Bei diesem recht neuen Festival dreht sich nicht alles nur um die Musik, um den Jazz. Jussi Fredriksson beobachtet nämlich genau was um ihn herum geschieht. Und was vor allem mit der Archipelago Sea rund um seine Heimatstadt Turku passiert. Algen sind nämlich ein großes Problem. Dabei sind die Gewässer und die vor Turku gelegenen Inseln wunderschön. Aber auch dieses Paradies ist nun bedroht. Und so heißt das Eröffnungsstück von Frederikssons neuer Trio-CD passenderweise „Dead Sea“.
 
Jussi Frederiksson ist nicht nur Jazzpianist und auch Schlagzeuger, er ist auch der Kopf der „Jazz City Turku“. Inzwischen darf sich die sympathische südwestfinnische  Stadt, die älteste des Landes übrigens, durchaus so nennen. Nicht nur organisieren Fredriksson und sein Team das ganze Jahr über Konzerte in der Stadt und zwei Mal im Jahr eine Jazzcruise zwischen Turku und Stockholm - Turku beheimatet mit dem Turku Jazz Festival das zweitälteste Finnlands, hat mit dem Turku Jazz Orchester eine eigene Bigband und unter dem Namen Archipelago Sea Jazz nun vier kleine Sommerfestivals in der Region unter einen Hut gebracht. Drei davon finden ausschließlich auf Inseln statt. Zwei, Baltic Jazz und Korpo Sea Jazz, existieren schon lange, zwei sind neu hinzugekommen: Das Åland Sea Jazz – und Turku Sea Jazz. Und letzteres bietet dem interessierten Publikum Besonderes. Etwa die knapp zweistündige Bootsfahrt durchs Archipel zur kleinen Insel Seili. Dort gibt zunächst der finnische Gitarrist Teemu Viinikainen ein Solokonzert in der kleinen Holzkirche der Insel, schafft durch Loops und Samples einige betörende Momente, verzaubert etwa mit seiner Version des alten Charlie Mingus-Klassikers „Goodbye Pork Pie Hat“, hat aber auch nicht immer so zündende Momente in seinem Spiel. Open Air in einem Garten verzücken bei schönstem Sommerwetter ein wenig später dafür durchgehend das Trio PLOP mit Special Guest Juhani „Junnu“ Aaltonen. Der Flötist und Saxofonist ist bereits 87 Jahre, teilt aber die Wildheit, die äußerst kreativen und immer überraschenden Improvisationsausbrüche und den Humor seiner viel jüngeren drei Kollegen, Saxofonist Mikko Innanen, Bassist Ville Herrala und Schlagzeuger Joonas Riippa.     
 
Der Hauptspielort von Turku Sea Jazz ist in diesem Jahr ein Open Air-Gelände vor dem Forum Marinum, einem Seefahrts- und Marinemuseum, etwa eine knappe halbe, sehr schöne Spazierstunde zu Fuß entfernt vom Stadtzentrum Turkus, immer am Fluss entlang. Dort zeigt das finnische Timo Lassy Trio wie frischer, eigenständiger Modern Jazz zwar zurückblickend, aber dennoch topaktuell und frisch klingen kann, bissig und zupackend, aber auch mit catchy Melodien unterfüttert. Und einer Virtuosität, die immer schön in den Triokontext eingebunden wird, trotz wilder Soloausflüge aller dreier Musiker. Die Dänin Ida Nielsen hat ihren E-Bass schon für Prince eingestöpselt. Mit ihrer eigenen Combo The Funkbots gibt es eine groovige Funkparty zum Abschluss des ersten Abends am Forum Marinum. Viele tanzen, und Frau Nielsen hat den Funk drauf, Show Offs mit ihrem Tieftöner inklusive. Das ist gute Unterhaltung, die aber nicht lange nachhallt.
 
Von den drei Sängerinnen auf dem Festival singen zwei in ihrer Muttersprache. Finnland´s Nummer Eins-Jazzstimme Aili Ikonen (so angekündigt auf der Festival-Webseite) kann wirklich richtig gut singen und Songs mit ihrer Stimme sehr schön kolorieren. Den girliehaften Gesang von Schwedens Lisa Ekdahl muss man allerdings schon mögen. Eine weitere Finnin, Johanna Försti, sorgt dagegen für den richtigen Festivalausklang mit ihrer souligen, kraftvollen Stimme und auf Englisch gesungenen Pophits, die sie mit ihrem Trio mit Hammondorgel teilweise sehr interessant Richtung Jazz dreht. Und mit der Band Sound Tagine des finnischen Trompeters und Bouzouki-Spielers Ilkka Arola, der am letzten Abend auf einer kleinen Bühne mit zwei kurzen Sets wunderbar die Umbaupausen auf der großen Bühne überbrückte, gab es einen innovativen Künstler zu entdecken, der nahöstliche Meldodien geschickt mit modernen Jazzklängen zu kreuzen verstand. Voller Spiellust und immer wieder mit überraschenden Klanggemälden.
 
https://turkuseajazz.fi/en/31-7-1-8-2020/
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Juha Kurri


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Canarias Jazz & Más 2023
Kanarische Inseln
 
Am Ende wird es ganz intim. Und richtig gut. Das Publikum im Teatro Cuyás im Herzen der wunderschönen Altstadt von Las Palmas tobt und klatscht immer weiter. Dabei haben Kandace Springs und das Metropole Orkest schon 90 Minuten Konzert gespielt und noch eine Zugabe hinterher. Also muss zumindest die US-Amerikanerin noch mal ran. Die Sängerin und Pianistin mit dem markanten Wuschelkopf kommt wieder auf die Bühne, setzt sich ans Klavier und zelebriert den alten Jazzklassiker „The Nearness Of You“ förmlich. Jeder Ton wird gestaltet, jedes Wort ist ein Gedicht. Ein zauberhafter Abschluss eines imposanten Konzertes, bei dem das niederländische Orchester unter der Leitung der Japanerin Miho Hazama zeigte, warum es zu den besten Orchestern in Jazz und Pop zählt. Und Kandace Springs, wie schön sie zwischen Soul und Jazz singen kann, wenn auch oft in einer ähnlichen Stimmung, in einem Programm aus Jazzstandards, Popsongs und Stücken aus der Feder der Sängerin.
 
Auch wenn die meisten Konzerte auf Gran Canaria in Las Palmas über diverse Bühnen gehen, es gibt auch Konzerte außerhalb der Inselhauptstadt. Etwa der Open Air-Abend in Santa Brígida, einer kleinen, hübschen Gemeinde 20 Autominuten entfernt vom Zentrum von Las Palmas. Dort heizte die französische Band Daїda mit ihrer energiegeladenen Mischung aus schreiender Jazztrompete und E-Gitarre, treibenden Schlagzeug-Beats und manchmal vielleicht ein wenig zu viel verspielten Synthiesounds zwischen Jazz, Techno und Elektronik mächtig ein. Neuer französischer Jazz, der viel Spaß macht.
 
Einmal mehr ein traumhaftes Konzert bot Salvador Sobral. Der Portugiese weiß einfach wie man ein Konzert auf ein lokales Publikum passgenau zuschneidet. Dass er spätestens seit seiner Zeit als Musikstudent in Barcelona zudem sehr gut Spanisch spricht, das öffnet ihm sogleich die Herzen des kanarischen Publikums. Wie eine Hymne an die Kanaren, die er gegen Ende seines berührenden Auftritts singt. Und mit seinen ganz eigenwilligen Songs zwischen zartem Jazz und kunstvollem Pop und seinem sanften Gesang trifft er einfach immer die Seele der Zuhörer.
 
Kostenlos und open air, die Konzerte am Santa Ana-Platz im Herzen der zauberhaften Altstadt von Las Palmas sind beliebt und immer bestens besucht. Zumal es auch meistens sehr animierende Musik zu hören gibt. Etwa von der schrillen Bassistin und Sängerin Nik West, die schon für Prince ihren E-Bass umschnallte. Viel Funk und Groove und ein wenig Show, damit zieht die US-Amerikanerin das Publikum schnell auf ihre Seite. Auch der kubanische, aber schon lange in Spanien lebende Pianist und Komponist Caramelo de Cuba weiß wie man am Ende alle zum Tanzen bringt – mit nicht enden wollenden Salsa-Rhythmen. Aber seine musikalische Mischung zuvor ist viel feiner. Denn er fusioniert genial kubanische Rhythmen mit Flamenco und Jazz und hat dafür sogar zwei betörende Flamenco-Stimmen in seiner siebenköpfigen Band. Eine Entdeckung, wer ihn noch nicht kannte. Eine Entdeckung ist auch das Pere Bujosa Trio. Der mallorquinische Bassist, Pianist Xavi Torres und Drummer Joan Terol arbeiten geschickt mit Polyrhythmen und bauen auch mal eine Radiohead-Nummer oder einen mallorquinischen Folksong in ihren immer spannend tönenden Triojazz ein.   
 
Und bei aller Internationalität gibt es beim Canarias Jazz & Más immer auch lokale Musiker zu entdecken. Wie etwa das Duo der Sängerin Alba Serrano und dem Pianisten Cristóbal Montesdeoca und dem Programm ihrer ersten gemeinsamen CD „Viagem“ („Reise“). Die beiden spielten in einem Musiksaal außerhalb des Stadtzentrums, mitten in einem Industriegebiet gelegen. Nicht die hübscheste Gegend, aber der Spielort ist sehr nett und atmosphärisch. Montesdeoca entpuppt sich als fantasievoller, sehr guter Pianist, seine Partnerin überdreht allerdings oft lbeim Singen von in Jazz verwandelter kanarischer Folklore, portugiesischem Fado, Musik der Kapverden und aus Brasilien und Carlos Gardels´ berühmter Tango-Hymne „Volver“ ganz am Schluss.
 
https://canariasjazz.com/
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Nacho González, @lazyafternoon


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Funchal Jazz Festival 2023
 
Funchal, Madeira
 
Einen guten Geschmack, was die Programmierung seines Festivals angeht, beweist Paulo Barbosa jedes Jahr auf Neue, wenn im Juli das Funchal Jazz Festival im wunderschönen Santa Catarina Park im Herzen von Madeiras Hauptstadt über die große Open Air Bühne geht. Aber der umtriebige Festivaldirektor hat sich in diesem Jahr gleich am ersten der drei Abende mit den internationalen Stars (zuvor gab es wie erstmals im letzten Jahr auch wieder einige Konzerte für regionale Musiker im kleinen Stadtpark bei freiem Eintritt) als Türoffner betätigt, indem er dem fantastischen portugiesischen Altsaxofonisten Ricardo Toscano eine tragende Rolle als Special Guest beim Konzert des Trios des US-Pianisten Emmet Cohen andachte. Was ziemlich gut funktionierte. Das Cohen-Trio mit seinem ganz in der Tradition verwurzelten Jazz, den der kongeniale Dreier so spannend und nach vorne oder zumindest in die Gegenwart schauend aufzubrechen weiß, und auf der anderen Seite der klangstarke Portugiese mit seinen beseelten, kraftvollen Saxofonlinien. Ein Schwung von Jazzstandards dient dabei als gemeinsame Basis für das Ausloten von klanglichen Verbindungen. Magisch, muss man am Ende konstatieren.  
 
Große Stimmen waren auf Madeira schön häufiger zu hören. Dieses Jahr waren das Kurt Elling und Samara Joy. Der eine ein Haudegen mit großer Bühnenpräsenz, der so vieles singen kann und das auch tut. Sein aktuelles Projekt, das er auf der Insel vorstellte, zusammen mit dem Gitarristen Charlie Hunter, heißt “SuperBlue“. Ein funkiges, groovendes Ding, das gut gespielt und mit den Jungs der US-Band Butcher Brown mit knackigen Bläsern, kreativem Drumming, Keyboard und der zwischen E-Bass und E-Gitarre agierenden Hybrid-Gitarre Hunters bestes musikalisches Entertainment zu bieten hat. Ein wenig von dem Mut und Neugier ihres männlichen Kollegen wünscht man auch der jungen US-Amerikanerin Samara Joy für ihre weitere Karriere, die allerdings ja noch immer erst am Anfang ist, trotz schon zweier Grammy Awards im Schrank. Aber noch folgen sie und ihr Trio zu sehr der traditionellen Linie großer US-Jazzsängerinnen. Noch fehlt das Eigene, das Abseitige, der Aha-Effekt bei ihrem Auftritt. Stimmlich aber bringt sie vieles mit. Und traut sich am Ende dann doch was, mit einem auf Portugiesisch gar nicht mal schlecht gesungenen Fado.
 
Was der spanische Saxofonist Perico Sambeat und das Orchestra de Jazz do Funchal ein paar gemeinsame Tage lang gemeinsam erarbeitet hatten, das konnte sich hören lassen. Frische Musik, interessante Arrangements und eine heimische Bigband, die zeigte was sie kann. Spielten dieses Jahr eigentlich alle Bands mit sehr guten Schlagzeugern, zeigtte die grammy-dekorierte Drummerin Terri Lyne Carrington mit ihrem „New Standards“-Programm und Kompositionen ausschließlich von Musikerinnen eindrucksvoll wie stark die weibliche Stimme im Jazz doch ist. Das war ein echtes Statement, das musikalisch auch noch völlig überzeugte.
 
Das wohl besonderste Projekt in Funchal in diesem Jahr aber war wohl „Entre Paredes“ des Sextetts des portugiesischen Bassisten Bernardo Moreira. Der war schon als junger Musiker begeistert von Carlos Paredes, dem 2004 verstorbenen Musiker aus Coimbra, der die portugiesische Gitarre aus der reinen Begleitfunktionen im Fado heraus holte, aber auch für Fado-Queen Amália Rodrigues Stücke komponierte. Als junger Musiker spielte Moreira sogar mal mit Paredes. Und hat 2021 mit dem Album „Entre Paredes“ nach einem ersten Album Anfang der 2000er nach 20 Jahre die Verbindung zu der Musik des großartigen Gitarristen wieder neu aufgenommen  Zwischen Jazz, Fado und portugiesischer Folklore kreieren Bernardo Moreira, Bruder João Moreira an der Trompete, Gitarrist Mário Delgado, Pianist Ricardo J Dias, Drummer Joel Silva und der junge Altsaxofonist Tomás Marques im Santa Catarina Park gefühlvolle, warmherzige Stimmungen und spielen ein ungemein seelenvolles Konzert voller emotionaler Schwingungen. Paredes´ berühmte Komposition „Verdes Anos“ berührt ungemein in einer nur von Trompete und Klavier gespielten Version. Eine Entdeckung, ein sehr hörenswertes Projekt, das hoffentlich auch bald mal den Weg von Portugal hinaus in die Welt geht.
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Márcia Lessa
https://www.funchaljazz.com/
 
#madeiraisland
#visitmadeira
#madeiranowordsneeded
#madeirabelongstoall
#madeiratãotua


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inJazz & North Sea Round Town 2023
 
Die beiden Locations sind einfach zauberhaft. Sowohl De Kaai, eine ehemalige Margarinenfabrik, als auch die Van Nelle Fabriek, der ehemalige Firmensitz des niederländischen Kaffee-, Tee- und Tabakproduzenten Van Nelle und seit 2014 als Kulturobjekt zum UNESCO-Welterbe zählend, bieten die passenden Räumlichkeiten für ungewöhnliche Musikprojekte. Und genau die gab es jetzt auch zu hören am Auftaktwochenende von North Sea Round Town.   
 
In De Kaai ist es das Projekt Youran des belgischen Saxofonisten und Klarinettisten Joachim Badenhorst. Eine Improvisations-Performance, die den ganzen Raum einbezieht. Als Zuhörer sitzt man völlig entspannt in Liegestühlen oder auf riesigen Kissen. Und muss aufpassen nicht irgendwann im Laufe der viel zu langen zwei Stunden wegzunicken. Wegen der entspannten Atmosphäre und weil sich das Gehörte nach einer Weile im Kreis dreht, ohnehin nicht viel Aufregendes zu bieten hat. Die japanische Taiko-Perkussionistin Tsubasa Hori, die österreichische Bassistin Beate Wiesinger, der schottische Trompeter Alistair Payne, der irische Gitarrist Simon Jermyn, der niederländische Sample-Künstler Rutger Zuydervelt und natürlich Badenhorst selbst schaffen Klangbilder, die aber nicht wirklich eine Geschichte erzählen. Sicher, das Konzept dieses Projektes, das übersetzt in Japanisch so viel wie „der Beginn von Dingen“ und in Chinesisch „ohne Eile“ bedeutet, trifft schon den Kern des Vorhabens, lässt aber spannende Momente weitestgehend missen.
 
Ähnliches lässt sich auch sagen über den Auftritt der in den Niederlanden lebenden, türkischen Sängerin und Cellistin Sanem Kalfa, die in diesem Jahr als Artist in Focus bei North Sea Round Town gleich mehrere Auftritte hatte und in der Van Nelle Fabriek ihr Projekt Invisible Columns mit einem Ensemble von Topstars präsentieren durfte. Pianist und Organist Kit Downes, Trompeter Ambrose Akinmusire und der norwegische Live Sampling-Magier Jan Bang sind neben ihr auf der Bühne in der atmosphärisch beleuchteten Industriehalle. Eine Tänzerin startet zuvor das Projekt mit avantgardistischen Tanzeinlagen mitten im Raum. Aber weder nimmt man Sanem Kalfa ihre Attitüden ab bei ihrem improvisierten Gesang noch fesselt die Musik zwischen Impro und auskomponierten Passagen sonderlich. Die Stargäste sind unterfordert, lediglich Jan Bang, der erst am Konzerttag erstmals auf die anderen traf, verschafft mit Fantasie und packenden Streicher-Samples ganz am Schluss dem Ganzen einen großen Abgang.
 
North Sea Round Town, das dieses Jahr bereits zum 18. Mal stattfindet, ist das Rahmenfestival zum berühmten dreitägigen North Sea Jazz-Festival im Juli. Mehr als 350 Konzerte an 125 Orten in Rotterdam, viele davon kostenlos, geben auch aufstrebenden (lokalen) Talenten eine Plattform. Das Festival kollaboriert dieses Jahr auch wieder mit dem dreitägigen Showcase-Festival inJazz. Auch hier gab es natürlich Musik zu hören, wie etwa vom erfrischenden JF Trio aus Katalonien, in diesem Jahr Partner von InJazz und mit einigen Bands am Start. Ein Programm für professionelle Jazzarbeiter mit Konferenzen und Gesprächsmöglichkeiten rundeten ein insgesamt interessantes Wochenende in einer interessanten Stadt ab. Am Ende von inJazz wurde auch noch der bedeutendste Preis für Jazz und improvisierte Musik aus Holland verliehen, der Boy Edgar Preis. Über den durfte sich in diesem Jahr die Sängerin Monica Akihary freuen, eine wahrlich große Stimme in den Niederlanden.        
 
North Sea Round Town 2023 läuft noch bis zum 9. Juli.    
https://www.northsearoundtown.nl/
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Eric van Nieuwland, Maarten Laupman, Karen van Gilst


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34. Schaffhauser Jazzfestival 2023
 
Der Fokus liegt auf dem Schweizer Jazz. Das allein macht dieses Festival schon so interessant. Dass es auch noch vorzüglich organisiert ist, die Hauptspielstätte, das Kulturzentrum Kammgarn, ein angenehmer Ort zum Verweilen und Schaffhausen zudem eine hübsche Stadt, das alles macht die Reise an die deutsch-schweizerische Grenze mehr als lohnenswert.   
 
Und die Macher trauen sich was. Platzieren etwa am Eröffnungsabend im Stadttheater das Berner Duo Bureau Bureau direkt vor dem sinfonischen Programm „Clazz“ des Bassisten und Komponisten Luca Sisera aus Chur. Zunächst die Performance aus Spoken-Word, Gesang und diversem Schlagwerk von Vokalistin Sonia Loenne und Drummer Michael Cina. Die sparen nicht mit Gesellschaftskritik, liefern einen anarchistischen Auftritt, kräftig gegen Hörgewohnheiten gebürstet. Muss man mögen. Das fällt bei „Clazz“, einem Werk zwischen Jazz und Klassik, geschrieben für Siseras Jazzquintett Roofer und den rund 50 Musikern der Kammerphilharmonie Graubünden, viel leichter. Denn die gebotene Musik offeriert Wohlklang in fünf Sätzen, feine Kombinationen von opulenten, bisweilen hymnischen Orchesterklängen und darin eingebetteter Jazzband. Dieses zugängliche großorchestrale Werk – welch ein Kontrast zu dem strubbeligen Duo direkt davor.
 
Ganz allein am Konzertflügel verzaubert am nächsten Tag der Pianist Yannick Délez das immer sehr aufmerksam lauschende Schaffhauser Publikum. Wer den Tastenkünstler aus Lausanne live erlebt, fragt sich warum der Mann noch immer ein wenig unter dem Radar der großen Bekanntheit agiert. Denn fesseln kann er mit seinen impressionistischen Klangmalereien, mit seiner perlenden Kammermusik der sensiblen Art, die aber durchaus auch mit intensiven Läufen beeindruckt. Intensiv war auf jeden Fall auch der Auftritt des Trios des schweizerischen Tenorsaxofonisten Christoph Irniger mit dem holländischen Altsaxofonisten Ben van Gelder als Gast. Zwei starke Saxofonstimmen, die sich aneinander reiben, herrlich unisono miteinander können, aber auch jeweils allein mit dem fantastischen Rhythmusduo mit Bassist Raffaele Bossard und Ziv Ravitz den Kern von Jazzmusik neu zu definieren verstehen.
 
Auch Clemens Kuratle ist eine spannende Stimme des aktuellen Schweizer Jazz. Mit seinem Quintett Ydivide, zu dem mit dem Pianisten Elliot Galvin und der Altsaxofonistin Dee Byrne zwei Briten gehören, startet der aus Bern stammende Schlagzeuger das Konzert sehr freigeistig um dann aber fast schon konventionell weiterzumachen. Aber konventionell bedeutet bei dieser Band nie langweilig, denn die Beteiligten suchen ständig wieder nach kreativen Brüchen, spielen sich durch variierende Rhythmen, reißen zu viel Schönklang auf.
 
Sehr geschmeidig kommt das Chopin-Projekt des Schweizer Pianisten Jean-Paul Brodbeck und des US-Gitarristen Kurt Rosenwinkel rüber, das Chopin-Etüden, Preludien oder auch mal einen Walzer hoch virtuos in den Jazz überführt. Fürs Virtuose ist vor allem Rosenwinkel auf der E-Gitarre zuständig. Der bei diesem Festival viel beschäftigte Schweizer Bassist Lukas Traxel und der katalanische Drummer Jorge Rossy komplettieren die Band und sorgen für das Modern Jazz-Fundament.
 
Und dann ist da noch das Louis Matute Large Ensemble, das formidable Sextett des Genfer Gitarristen mit honduranischen Wurzeln, bestehend aus zwei vorzüglichen Bläsern, einen Wahnsinns-Pianisten, einem ganz starken Rhythmusduo an Bass und Schlagzeug und natürlich Matute selbst an der Stromgitarre. Der Rising Star der Schweizer Jazzszene hat sein aktuelles Album „Our Folklore“ betitelt. Aber davon sollte man sich nicht zum Denken in eine Richtung verführen lassen. Denn seine top zusammenspielende Truppe, die er mit seinem Gitarrenspiel wunderbar durch die Stücke leitet, kombiniert belebenden, mitreißenden, supergut gespielten modernen Jazz mit klischeefreien Latin-Elementen zu einer packenden Mischung, die runter geht wie Öl und in jedem Moment Spaß macht. Manchmal kann Gutes so einfach sein. Welche eine Entdeckung in Schaffhausen, wo es immer viel zu Entdecken gibt.
 https://www.jazzfestival.ch/

Text: Christoph Giese; Fotos: Peter Pfister


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Leuven Jazz 2023

Leuven

Wie man Jazzstandards auch mal spielen kann, zeigt Tigran Hamasyan auf seinem letzten Album StandArt. Mit dieser Platte im Gepäck schaute der armenische Pianist im Trio mit dem kanadischen Bassisten Rick Rosato und US-Drummer Jonathan Pinson beim Leuven Jazz vorbei, einem feinen Festival in der quirligen, nicht weit von Belgiens Hauptstadt Brüssel entfernten, historischen Studentenstadt Leuven, die Belgiens größte und bedeutendste Universität aus dem 15. Jahrhundert beherbergt. Zehn Jahre Festival feierte das inzwischen zehntägige Leuven Jazz in diesem Jahr. Jemanden wie Hamasyan bei der Jubiläumsausgabe dabei zu haben, ist wunderbar, denn der kleine Armenier ist an den Tasten ein ganz Großer. Quirlig, komplex, kantig, vor Ideen nur so sprudelnd ist sein Klavierspiel, oft auch durchzogen von Melodien seiner Heimat. Letzteres ist bei StandArt nicht der Fall, aber spannend ist das Projekt dennoch. Geschickt verfremdet das Trio die bekannten Melodien, variiert sie in Tempo, nimmt sie auseinander, um sie mit flirrenden Klaviernoten neu zusammenzusetzen. Da bekommt ein Standard wie I Didn´t Know What Time It Was auch schon mal schleppende HipHop-Grooves untergerührt. Wirklich cool – auch wenn Hamasyan bei seinem ganzen Konzert nicht eine Silbe sprach, nicht einmal seine Musiker vorstellte.
 
Wesentlich kommunikativer präsentierte sich da Lakecia Benjamin mit ihrem Quartett in der altehrwürdigen Schouwburg im Herzen Leuvens. Goldfarben gekleidet startete die plauderfreudige US-Saxofonistin und Komponistin ohne großes Warmspielen ihre Tour de Force, mit Coltrane-Stücken und Material ihrer von Terri Lyne Carrington produzierten neuen Scheibe Phoenix. Drummer E.J. Strickland pushte die Altsaxofonistin unermüdlich nach vorne in einem Auftritt wie ein Energie-Booster. Intensiv, mit schneidenden Altsax-Linien, aber auch mit Musik mit Haltung. Etwa wenn Benjamin gleich zu Beginn gekonnt von Selbstbestimmung, Freiheit oder Frieden rappte.
 
Das Finale des Nachwuchswettbewerbes B-Jazz 2023 für junge belgische Jazztalente findet zwar erst im Sommer in Gent statt, aber in Leuven gab es beim Festival eine interessante Vorrunde mit vier jungen Bands, von denen eine nach Gent fahren wird. Es wird das belgisch-niederländische Quartett Anti-Panopticon des belgischen Saxofonisten und Komponisten Lennert Baerts sein. Im Jahre 2019 gegründet, besticht der Vierer durch melodieverliebtes, emotional gespieltes Material, das sich zwar im Fahrwasser des Mainstream-Jazz bewegt, sich aber durch seine ausgereiften kompositorischen Strukturen und wirklich schönen Melodien wohltuend abhebt. Auch der erst 19-jährige belgische Gitarrist Eliott Knuets wusste mit seinem mit dem französischen Pianisten Noé Sécula neuformierten Quartett zu überzeugen. Das Festival gab ihm am ersten Festivalwochende zusätzlich sogar eine Carte Blanche für ein Konzert, das er dann mit dem US-Pianisten Aaron Parks bestritt. Und eine Band wie das in Brüssel beheimatete KAU Trio zeigte wie sehr junger, hipper Brit-Jazz in der Machart eines Kamaal Williams auch in Belgien seine Anhänger gefunden hat.
 
Die lokale und hörenswerte LUCA Bigband, aus Studenten der LUCA School of Arts in Leuven, unterhielt am letzten Festivalabend mit einem sehr unterhaltsamen Programm mit Südafrika-Schwerpunkt. Eine prima Vorlage für lebensfrohe Momente für die in Belgien lebende südafrikanische Sängerin Tutu Puoane, die aber auch einen eindringlichen Protestsong wie Nina Simones Four Women so zu singen wusste, dass er direkt unter die Haut ging. Mit der Sängerin Adja Fassa und ihrem Projekt Adja endete das besuchenswerte Festival mit einer gerade erst durchstartenden Stimme der belgischen Musikszene. Mit einer locker zusammengerührten, lässigen Mixtur aus Neo-Soul, R&B und Jazz, ein wenig Spiritualität und speziell für diesen Abend noch ergänzt mit ein paar Nina Simone-Songs zeigte die junge Belgierin mit üppiger Band inklusive zweier allerdings ein wenig unterbeschäftigter Backgroundsängerinnen durchaus ihr großes Potenzial.
 
In Leuven ist übrigens nicht nur das Jazzfestival einen Besuch wert, die Stadt selbst ist zauberhaft und bietet zahllose Entdeckungen. Etwa das wunderschöne Rathaus, die Universitätsbibliothek mit ihrem Lesesaal und ihrem Turm, der einen Rundumblick auf Leuven offeriert, der Große Beginenhof, längst UNESCO-Weltkulturerbe, mit einem Eintauchen in die Stille und ein längst vergangenes Jahrhundert. Oder der Oude Markt, Herz des Ausgehviertels der Stadt, den die Leuvener die längste Theke Europas nennen.    
 
https://www.leuvenjazz.be/en/home
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Gieke Merckx, Tom Herbots & Patrick Van Vlerken, Erard Swannet, Rob Stevens, David Degelin & Visit Leuven


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Lady Blackbird im Konzerthaus Dortmund
 
Diese Lady ist eine echte Erscheinung. Optisch sowieso, mit ihrem überdimensionalen, weißen Afro-Schopf und dem ziemlich extravaganten Bühnen-Outfit. Und dann diese Stimme! Dunkel, mächtig, raumausfüllend, aber auch verletzlich und irgendwie auch immer warm und seelenvoll. Die ganze Palette an Gefühlen kann Lady Blackbird mit ihrer Stimme problemlos abbilden. Und tut das im ausverkauften Konzerthaus. Mit feinen Nuancen, dabei immer mit todsicherer Intonation und Phrasierung, und mit spannenden Zwischentönen.
 
Viel weiß man eigentlich nicht über den neuen Star am internationalen Vokalhimmel. Marley Siti Munroe heißt die  kleine Sängerin aus Farmington, New Mexico mit der Riesenstimme, die sich bei ihrem Künstlernamen von Nina Simones Protestsong „Blackbird“  hat inspirieren lassen und 2021 mit ihrem Klasse-Debütalbum „Black Acid Soul“ weltweit aufhorchen ließ. Sie dürfte so um die vierzig sein, wuchs mit Soul und Gospel auf, fokussierte sich später mehr auf den Jazz.
 
All das und mehr hört man in ihrer Musik. Zwischen Blues, Spiritual, Retro-Soul, Pop und Jazz bewegen sich die ungemein bühnenpräsente Amerikanerin und ihre vierköpfige, sehr gute Liveband immer sehr geschmackvoll - und haben zwischendurch kleine Überraschungen parat. So dürfen Bassist und Schlagzeuger minutenlang ganz alleine auf der Bühne eine herrlich psychedelische Version der Beatles-Nummer „Come Together“ einleiten. Und auch Pianist Kenneth Crouch darf öfter mal zeigen, was für ein feines Händchen er hat.
 
Ein intensiver Auftritt ist das. Auch weil Lady Blackbird vokale Extreme bewusst ansteuert, schiere Verzweiflung und Herzschmerz manchmal fast schon zu expressiv in ihren Gesang verpackt. Und dann, schon bei der Zugabe, ein weiteres Mal verblüfft. Wie sie das durch Gloria Gaynors Discoversion berühmt gewordene „I Am What I Am“ völlig entschleunigt und auf die pure Essenz herunterbricht – magisch wie der ganze Abend.        
 
Text und Fotos: Christoph Giese


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Nordlysfestivalen – The Northern Lights Festival
 
Tromsø

Sie nimmt einen mit auf eine Reise ins Innere und die Einsamkeit. Mit ihrer Musik, aber auch mit ihren Visuals, die im Bühnenhintergrund auf einer großen Leinwand laufen. Der Spielort für das berührende Konzert mit der nordnorwegischen Sängerin und Songschreiberin Marthe Valle ist dazu perfekt gewählt. Das Verdensteatret im Herzen von Tromsø ist das älteste in Nordeuropa noch als Kino funktionierende Lichtspieltheater, das noch aus Stummfilmzeiten stammt. Ein Saal mit Atmosphäre. Mit ihrer Auftragsarbeit Overlys, die nun beim Nordlysfestivalen die Premiere feiert, hat die Norwegerin ein gut einstündiges, durchgehendes Musikwerk geschaffen, das zarte norwegische Folklore in einen Kontext setzt, in dem Improvisation das Ganze spannend macht. Wunderbar die Interaktionen von Geige und Harfe, die behutsamen Töne vom Tastenmann oder auch die zugesetzten Sounds der Sängerin, die behutsam auch mit Elektronik hantiert. Aus all dem entstehen an diesem Abend verzaubernde Klänge. Der leicht rieselnde Schnee und das winterliche Ambiente in der Stadt holen einen vor der Theatertür erst langsam wieder zurück in die Realität nach diesem Auftritt.

 
Auch Susanne Lundeng stammt aus Nordnorwegen. Die Geigerin, Sängerin und Komponistin präsentiert sich in einem intimen Konzertrahmen mit den beiden Jazzmusikern Nils-Olav Johansen (Gitarren) und Erik Nylander (Schlagzeug). Und spielt ausgehend von der Volksmusik Nordnorwegens mit ihrem Trio wunderschöne Lieder, die sich dem Jazz und der Improvisation herrlich öffnen, Verbindungen suchen und finden. Mal fragil, dann stürmisch, mit virtuosem Fiddle-Spiel und Gitarrenlinien. Ein wenig übertreibt sie an diesem Abend aber die Konversation mit dem Publikum zwischen den Liedern, die man ohne Norwegischkenntnisse ohnehin nicht versteht.  
 
Gesprochen wird beim Auftritt der Tromsø Big Band nicht. Mit dem Stargast Nils Petter Molvær geht es im ausverkauften Kulturzentrum der Stadt nur um die Musik, um die Stücke, die Molvær für diesen Abend mitgebracht hat. Das semiprofessionelle Jazzorchester und der norwegische Trompetenstar, die ätherischen und atmosphärischen Trompetenlinien und eine manchmal vielleicht ein wenig zu undifferenzierte Klangwucht (aber hey, es steht eine Big Band auf der Bühne) – dieses Konzert zieht seine Spannungspunkte aus Kontrasten. Mit dann doch immer wieder interessanten Facetten, auch wenn nicht jeder Konzertmoment wahnsinnig spannend klingt.
 
Und wie man Franz Schuberts „Schwanengesang“ auch interpretieren kann, das zeigt beim Nordlysfestivalen das sehr unterhaltsame norwegische Duo frankågunnar. Sänger Frank Havrøy ist sich für keine, auch urkomische Dramatik zu schade, ohne das Ganze jedoch auch nur für eine Sekunde ins Lächerliche zu ziehen. Währenddessen zieht Pianist Gunnar Flagstad Schuberts Melodien immer wieder rüber in einen jazzigen Kontext. So entsteht in einem kongenialen Zusammenspiel der beiden Protagonisten ein köstliches Musikabenteuer auf einer kleinen Bühne, in Clubatmosphäre. Und genau in solch einem Rahmen sind frankågunnar einfach bestes Entertainment.
 
Ein Besuch des Nordlysfestivalen lohnt sich aber nicht nur wegen des interessanten Festivalkonzeptes. Das vor 35 Jahres als Klassikfestival gestartete Event hat sich längt in Richtung Folk und Jazz geöffnet - und zeigt sogar Tanz. Mit Heidi Beate Lekang hat eine junge Frau 2020 das Ruder übernommen und konnte in diesem Jahr ihre erste Ausgabe ohne irgendwelche Corona-Einschränkungen planen und durchführen. Aber natürlich ist das 344 km Luftlinie nördlich des Polarkreises gelegene Tromsø sowieso ein absolut interessantes Reiseziel. Mit zauberhafter, verschneiter Natur zum Zeitpunkt des Festivals. Und mit den so einzigartigen Nordlichtern. Da lässt man auch schon mal ein Solokonzert des norwegischen Pianisten und Schriftstellers Kjetil Bjørnstad ausfallen, um stattdessen raus aus der Stadt in die Dunkelheit der unberührten Natur zu fahren, um bei Eiseskälte auf das einmalige Spektakel der Nordlichter zu hoffen.
 
https://www.nordlysfestivalen.no/en
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Jacek Brun & Knut Aaserud


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Brussels Jazz Festival Flagey
 
Zwei Jahre konnte es wegen der Corona-Pandemie nicht stattfinden. Das hat Maarten Van Rousselt und sein Team vom Spielort Flagey ziemlich genervt. Und so war man für die Ausgabe in diesem Jahr vorsichtig und hat kein zehntägiges Event wie normalerweise geplant, sondern das Festival auf vier allerdings vollgepackte Tage komprimiert. Für einen auswärtigen Gast vielleicht kein Nachteil, lässt sich doch so das komplette Programm an einem verlängerten Wochenende erleben.   
 
Und ein Erlebnis ist das Brussels Jazz Festival Flagey zweifellos. Das fängt schon beim Spielort an. Das in den 1930ern im Art Déco-Stil erbaute Flagey-Gebäude, das früher das Nationale Institut für Rundfunk (NIR) beherbergte und bis 2002 renoviert wurde, ist ein wunderbarer Ort für Livemusik, mit seiner großartigen Akustik und den bequemen Sitzen. Da lässt sich eine Band wie das Trio von Henri Texier entspannt genießen. Der 1945 geborene französische Kontrabassist verwöhnt zusammen mit Sohnemann und Saxofonist Sébastien Texier und dem Schlagzeuger Gautier Garrigue mit Jazzstandards und eigenen Kompositionen als echter Geschichtenerzähler. Da klingt alles fantasievoll und luftig und immer auch ein wenig nach imaginärer Folklore, obwohl fest im Jazzidiom verortet.
 
Ein junges Publikum sprechen Bands wie die der britischen Trompeterin und Sängerin Emma-Jean Thackray und des ebenfalls aus Großbritannien stammenden Kamaal Williams an. Thackrays energetische Musik groovt, ist funky und tanzbar und eigentlich eher was für ein Stehpublikum. Dabei hält sie ihre Songs schlicht. Und vielleicht wirken sie auf Dauer deshalb ein wenig zu einfach und catchy? Definitiv ist die Künstlerin aus Leeds keine große Sängerin. Aber sie singt in Brüssel mehr als sie Trompete spielt. Auch deshalb keine volle Punktzahl. Die erreicht auch Tastenmann Henry Wu alias Kamaal Williams nicht ganz, hat sein ansonsten überzeugender Auftritt doch ein paar Längen. Und braucht eine Weile, bis er in die Gänge kommt. Aber wenn auf Touren, dann ist die Mischung grandios. Dann treffen 70er Jahre Jazzfunk mit auch mal ungewöhnlichen Keyboardsounds auf gnadenlose Rhythmen. Für die zeichnet der Wahnsinns-Schlagzeuger Samuel Laviso aus Guadeloupe verantwortlich. Der hat ein paar Jahre bei Kenny Garrett getrommelt. Und kann Breakbeats, kann pushen, aber auch kolorieren. Ein Trompeter komplettiert das Trio, das sich gegenseitig befeuert, ohne große Setlist arbeitet, dafür eher schaut, was sich spontan entwickelt. Musik mit hypnotischen Grooves und süffigen Melodien, mit Dancefloor-Feeling und Jazz-Hipness. Ziemlich cool.
 
Zu einem absoluten Festival-Höhepunkt wird ein Auftritt zur Mittagszeit. Das Trio der klassisch geschulten, griechischen Pianistin Tania Giannouli, ungewöhnlich besetzt mit zwei Landsleuten an Oud und Trompete, entführt in poetische, spielerische Klangwelten zwischen Okzident und Orient, die aber auch mal aufbrechen und kurzzeitig bissig klingen können. Präpariertes Piano, ideenreiche Improvisationen, gefühlvolle Melodien und eine bildhafte Klangsprache ziehen den Zuhörer in einen Kosmos einer zeitgenössischen, jazzigen Kammermusik, von der man in Belgiens Hauptstadt gar nicht genug hören kann.
 
Einer jungen Künstlerin eine Festival-Residenz zu geben mit gleich drei Auftritten, dafür darf man den Programmmachern danken. Denn Posaunistin Nabou Claerhout aus Antwerpen entpuppt sich als Künstlerin, die im Trio mit Gitarrist und Schlagzeuger aus Holland musikalisch Spannendes zu erzählen hat, beim zweiten Konzert mit ihrem Trombone Ensemble, mit dreiköpfiger Rhythmusgruppe und gleich sechs Posaunisten besetzt, darunter US-Posaunen-Koryphäe Robin Eubanks, ihr Instrument mit interessanten Arrangements wunderbar in den Fokus zu rücken versteht, am Abschlusstag im Duo mit ihrer Landsfrau Lynn Cassiers an Stimme und Elektronik im bislang beim Festival noch nie genutzten kleinen Studio 10 allerdings keine so packenden Momente kreiert.
 
Zum ersten Mal findet auch ein kleines, 30-minütiges Konzert im kleinen Turm, ganz oben im Flagey-Gebäude statt. Da müssen erst einmal etliche Stufen hochgelaufen werden. Aber dann wird man mit einem tollen Blick belohnt. Die junge Belgierin Anneleen Boehme spielt solo und sehr fantasievoll auf ihrem Kontrabass, setzt dabei dezent Loops ein. Der stürmische Wind draußen pfeift durch die Fenster. Was für ein Erlebnis!       
 
Und dann ist da noch Angus Fairbairn, der auf der Bühne zur Kunstfigur Alabaster DePlume wird. Sein musikalisches Schaffen in wenige Worte zu fassen – schwierig. Man muss diesen Verrückten erleben, sein bisweilen versponnenes Gequatsche, das aber immer voller Seele und Ermutigung steckt. Dieser Jazzpunk aus Manchester ist sowohl politisch als auch sozial. Und spielt auf der anderen Seite ein vibratoreiches, intensives Tenorsaxofon, das in mehreren Stilen wildert. Zwei junge Damen an E-Bass und Schlagzeug hat er in Brüssel dabei, die auch als Chorstimmen fungieren müssen. Spirituell, verschmitzt, sympathisch, surreal, aber auch (selbst-)ironisch, mit folkhippiger Liedermacher-Attitüde und dann wieder knackig funky und jazzig – all das bietet der schrill gekleidete Anfangvierziger auf der Bühne des Flagey und zieht mit dieser wilden Mischung sein Publikum in den Bann.
 
https://www.flagey.be/brusselsjazzfestival
 
Text : Christoph Giese; Fotos:brussels jazz festival flagey


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Till Brönner & Band im Dortmunder Konzerthaus
 
Till Brönner – Trompete & Flügelhorn
Mark Wyand – Saxofon & Querflöte
Bruno Müller – Gitarre
Christian von Kaphengst – Bass
Christian Frentzen – Keyboards
Olaf Polziehn – Klavier
Felix Lehrmann – Schlagzeug
Frank McComb – Gesang & Keyboard
 
Die „Stille Nacht“ als rhythmisch quirlige Samba? Wieso nicht! Ist doch schließlich auch Kurze Hose-Wetter und Sommer an der Cobacabana zur Weihnachtszeit. Mit besinnlichen und andächtigen Weihnachtsklängen hat es Till Brönner sowieso nicht so. Auch wenn er das Publikum im ausverkauften Dortmunder Konzerthaus mehrmals wissen lässt, dass er Weihnachtsplatten und deren Musik ziemlich liebt.
 
Aber sie müssen bei Deutschlands Top-Jazztrompeter und nebenbei in Dortmund auch noch smartem Conférencier eben nicht unbedingt nach dem großen Fest am Jahresende klingen. Und nicht einmal aus der Weihnachtswelt stammen. So ist der alte Popsong „Nature Boy“, der später seinen Weg zum Jazzstandard machte, für Brönner Musik für die Weihnachtszeit. Ebenso wie „Moon River“ von Henry Mancini aus dem Film „Frühstück bei Tiffany“.
 
Bei dem Pustefix und seiner sechsköpfigen Band mit dem fantastischen US-amerikanischen Soul-Crooner und Keyboarder Frank McComb als Gast klingt das sowieso alles anders. Es klingt nach Jazz. Mal lässig und soulig, wenn McComb zum Gesangsmikro greift. Dann wie ein Moment aus einem Jazzclub, wenn bei „Let It Snow“ die Noten mächtig swingend durch den Konzersaal tänzeln.   
 
Das „Winter Wonderland“ wird bei den in schwarzen Anzügen und weißen Hemden gekleideten, schicken Herren auf der Bühne zu Souljazz allererster Güte. Und natürlich darf Gast Frank McComb mit „Another Day“ auch einen eigenen Klasse-Soulsong vorstellen. Überhaupt gibt es viele Freiheiten, werden die Weihnachtslieder immer wieder als Ausgangspunkte für jazzige Abschweifungen genutzt.
 
In diesem Christmas-Programm ist eben kein Platz für Kitsch. Ein paar Lichterketten vor den Monitorboxen sind optisch die einzige Deko für diesen kurzweiligen und sehr unterhaltsamen Abend, den auch langjährige Brönner-Buddies wie Saxofonist Mark Wyand, Pianist Olaf Polziehn oder Bassist Christian von Kaphengst wunderbar mit ausschmücken.
 
Und ja, auch an den Überweihnachtssong „Last Christmas“ von George Michael wagt sich diese furchtlose Truppe am Ende. Und umkurvt auch dank eines rockigen Gitarrensolos von Bruno Müller geschickt die weichgespülten Momente des Originals.
 
Weitere Termine:
15.12.: Duisburg, Mercatorhalle
16.12.: Düsseldorf, Tonhalle
19.12.: Essen, Philharmonie
 
Text und Fotos: Christoph Giese


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Eckard Koltermann Trio in der „werkstatt“ in GE-Buer
 
Eckard Koltermann – Bassklarinette
Christian Hammer – E-Gitarren
Achim Krämer – Schlagzeug
 
Los geht es mit einem Kinderlied. „Little M“ verwöhnt mit einer schönen Melodie und  warmen Tönen der Bassklarinette. Aber haben sie keine Angst vor den Liedern für die Erwachsenen, begrüßt Eckard Koltermann anschließend die Anwesenden in der Galerie „werkstatt“ in Buer.
 
Als kleine Warnung kann man das schon verstanden haben, denn so sanft bleibt der Konzertabend mit dem Trio des Wanne-Eickeler Bassklarinettisten nicht. Der kürzlich 64 Jahre alt gewordene Musiker ist keiner, der Musik spielt für die Hörgewohnheiten seiner Zuhörer, keiner der es sich und seinem Publikum leicht macht.
 
Weil er über Grenzen hinwegblickt. Weil er seine Liebe für den West Coast Jazz der 1950er und 60er Jahre in diesem Trio mit freien und melodischen Improvisationen und europäischer Kammermusik so genial zusammenzubringen weiß, dass beim Zuhören keine Grenzen und Barrieren spürbar werden. Auch weil der Übergang zwischen notierten und freien Passagen so fließend passiert.
 
Vor zwölf Jahren hat der über die Ruhrgebietsgrenzen hinaus bekannte Koltermann sein Trio mit ebenfalls aus Wanne-Eickel stammenden Schlagzeuger Achim Krämer und dem Gelsenkirchener Gitarristen Christian Hammer, Gastgeber dieses Abends, gegründet. Länger hat man nicht mehr zusammengespielt, was dieser kongeniale Dreier unbedingt künftig wieder ändern sollte.  
 
Denn diese im Grundsatz ruhige und reduzierte Musik spielt das Trio enorm facettenreich. Eckard Koltermann mit seinem raumfüllenden, unverstärkten Ton auf der Bassklarinette und Christian Hammer mit variierenden, fantasievollen Sounds auf seinen Stromgitarren. Und dann sitzt da noch Achim Krämer am Schlagzeug. Was für ein Kreativgeist, der seine beiden Kollegen viel mehr als begleitet. Er kommentiert, kontrastiert oder ergänzt das Geschehen auf der Bühne mit seinem lebendigen, unorthodoxen Schlagzeugspiel und  vielen überraschenden Einfällen.
 
Völlig zu Recht lockte dieses Konzert ein großes Publikum in die „werkstatt“. Wer den Abend verpasst hat: Mit „Bonus“ hat Eckard Koltermann in der Pandemiezeit ein grafisch spannendes und musikalisch ziemlich umfassendes Opus auf 4CDs plus Vinyl-Album zusammengestellt, das eine Schaffensphase von 1990 bis 2016 abdeckt. Mit Solo-, Duo- und Ensembleaufnahmen. Und mit einer Trio-CD, auf der die ersten sechs Stücke mit Christian Hammer und Achim Krämer eingespielt sind. Zu beziehen übrigens im Essener Musikverlag AUGEMUS unter www.augemus.de.
 
Text und Fotos: Christoph Giese


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Trans4JAZZ  Ravensburg
 
Wie er so von der Bühne schleicht, da merkt man schon dass Lee Ritenour nicht mehr der Allerfitteste ist. Runde 70 Jahre alt ist der Kalifornier. Aber seine Gitarren spielen, das kann der Amerikaner noch immer vorzüglich, wie er im wunderschönen, historischen Konzerthaus von Ravensburg zeigt. Im Quartett mit Sohnemann Wesley Ritenour am Schlagzeug gibt es einen feinen Querschnitt durch Jazz-Rock, knackigen Groove-Jazz und Fusion. Mit flächigen Gitarrensounds vom Meister, aber auch seinen eleganten Single Note-Linien, wie in Oliver Nelson gefühlvoll vorgetragenem Klassiker Stolen Moments. Einfach schön.
 
Die alte Zehntscheuer aus dem 14. Jahrhundert war wie jedes Jahr gleich zwei Mal am Festivalsamstag Spielort. Am Morgen zunächst wie immer mit einer kostenlosen Matinee. Da brachte die schon lange in der Schweiz lebende, kubanische Geigerin und Sängerin Yilian Cañizares mit ihrem Landsmann Inor Sotolongo an Drums und Perkussion sowie dem Mosambikaner Childo Tomas an E-Bass, Gitarre und Gesang ihr in Pandemiezeiten gegründetes Resilience Trio mit nach Ravensburg. Kubanische Rhythmen, Klassikeinflüsse und Jazz, daraus macht das Trio in der gemütlichen Location einen manchmal leicht spirituell angehauchten Auftritt, der mit Rhythmen und Lebensfreude punkten kann und das Publikum zum Mitsingen und am Ende sogar zum Tanzen animiert.
 
Trompeter Matthew Halsall aus Manchester ist einer dieser Kreativköpfe der so pulsierenden jungen britischen Jazzszene. Der Sound seiner Band, der mit Harfe oder auch Flöte ungewöhnliche Instrumente mit einbindet, erinnert mit seinen unaufgeregten Klangbildern an den spirituellen Jazz der 60er und 70er Jahre. In der Zehntscheuer verwöhnen die Briten mit lyrischen, weit ausgreifenden Melodielinien und zumeist wohltuend entspannten Klängen. Und der Bandleader, der nimmt sich selbst oft zurück, hockt dann am Bühnenboden und hört einfach seiner exzellenten sechsköpfigen Truppe zu, bevor er dann wieder zu seiner Trompete greift um eindringliche Linien in den Fluss der Musik einzufügen. Den Snarky Puppy-Gitarristen Mark Lettieri mit seiner eigenen, knackigen Funk-Jazz-Band zum „Wake Up Concert“ am Sonntagmittag in das Kulturzentrum Linse im Nachbarort Weingarten erweist sich als ideale Besetzung. Denn mächtige E-Bass-Grooves, knochentrockene Schlagzeugbeats, gewitzte Sounds vom Keyboarder und vor allem das einfallsreiche Spiel Lettieris auf E- und Baritongitarre wecken jeden im ausverkauften, ziemlich warmen Saal auf. Ein wenig kühl war es dagegen in der Evangelischen Stadtkirche beim Gastspiel vom Jazzchor Freiburg, der allerdings das Publikum mit einem feinen Programm, darunter auch mit einem für einen Jazzchor ungewöhnlichen Fokus auf Hits aus der Fusionjazz-Szene, zumindest das Herz erwärmte.
 
Und dann war da noch Lady Blackbird, eine echte Erscheinung. Extravagant sieht die Amerikanerin aus, mit ihrem Outfit und dem wasserstoffblonden, riesigen Wuschelkopf. Die Sängerin, die eigentlich Marley Munroe heißt, sich aber nach Nina Simone´s Rassismus-kritischen Song Blackbird aus den 1960ern benannt hat. Und in Ravensburg vor allem mit eigenwilligen Coverversionen alter, nicht immer so bekannter Songs das Publikum sofort um den Finger wickelt. Ihre Musik ist aufregend, dringlich, aber zugleich rockig, sexy und rebellisch. Was für eine Mischung. Und was für eine Stimme hat diese Frau. Dunkel und mächtig, raumausfüllend. Aber auch berührend, verletzlich und warm. Gänsehaut pur mit einer Predigerin der Black Music vergangener Jahrzehnte, die irgendwie wunderbar retro und dabei doch auch nach dem Heute klingt. Und wie sie das durch Gloria Gaynor´s Discoversion berühmt gewordene I Am What I Am in einer der stürmisch geforderten Zugaben herunterbricht auf die pure Essenz des Songs – einfach magisch, so wie der ganze Auftritt von Lady Blackbird. Zum Glück ist jetzt eine Doppel-CD Deluxe-Edition ihres fantastischen Debütalbums Black Acid Soul erschienen. Damit lässt sich immerhin ein Teil der Magie dieser Künstlerin jederzeit ins heimische Wohnzimmer holen.
 
www.jazztime-ravensburg.de
 
Text : Christoph Giese; Fotos: Hans Bürkle


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Tampere Jazz Happening 2022

Tampere, Finnland
Gefühlt fragt sie nach fast jedem Stück das Publikum wie es sich fühlt. Überhaupt scheint Nubya Garcia gerne zu plaudern an diesem Abend. Auch welches Stück denn als nächstes gespielt werden soll, bespricht sie auf der Bühne mit ihren Musikern für alle hörbar. Das kann man spontan und authentisch nennen, aber auch fürchterlich finden. Musikalisch jedenfalls liefert die so angesagte Britin mit karibischen Wurzeln mit ihrem Quartett beim Tampere Jazz Happening ihre gewohnte lässige bis bissige Mischung aus mitunter spirituellen Saxofonlinien, gepaart mit Dubstep, Reggae oder Broken Beats. Einiges ist packend gespielt, manches hat Längen, ein minutenlanges Solo ihres Kontrabassisten ist gar ein wenig langweilig. Am Ende aber will und bekommt das Publikum eine Zugabe und alle scheinen zufrieden.
 
Auch US-Trompeter Theo Croker kommt lässig daher mit seiner Mischung aus HipHop, ein wenig Elektronik und Jazz, der auch aus den Sechziger Jahren stammen könnte, auch wenn die Bass-Grooves und Schlagzeug-Breakbeats hip und sehr zeitgemäß klingen. „Jazz Is Dead“ singt Croker zu Beginn des Konzertes – und zeigt anschließend, dass das natürlich nicht stimmt. Auch indem er Wege sucht, Tradition und moderne Strömungen zu verbinden. So provokant wie seine gesungene Aussage ist sein Musikmix allerdings an diesem Abend überhaupt nicht, eher gute, groovende Unterhaltung, dargeboten von sehr guten Musikern.
 
Entdeckungen sind in Tampere andere. Etwa die im norwegischen Trondheim lebende, dänische Altsaxofonistin Mette Rasmussen mit ihrem Trio North. Zusammen mit dem norwegischen Bassisten Ingebrigt Håker Flaten und US-Drummer Chris Corsano gelingt es der auf der Bühne zudem sehr sympathisch rüberkommenden Saxofonistin eine komplexe Musik zu spielen mit immer der richtigen Balance aus Klangsuche, totaler Freiheit und Struktur. Narrative Klänge und expressive Ausbrüche kennzeichnen das Saxofonspiel der energievollen jungen Dänin, die sich durch das rhythmische Feuer ihrer beiden Kollegen nur zu gerne antreiben lässt. Viel frischen Bigband-Wind verbreitet das französische Ensemble GRIO (Grand Impérial Orchestra). Sieben Franzosen und der finnische Pianist Aki Rissanen begeistern am letzten Festivaltag mit Spielwitz und immer wieder überraschend orchestrierter Musik, in Szene gesetzt von einer ganz starken, fünfköpfigen Bläserabteilung mit undogmatischem Tatendrang. Das Ensemble spielt mit der Jazztradition und startet dennoch durch zum eigenen Klangkosmos. Großes, mächtiges Ohrenkino. Mächtig, wild und nach Freiheit klingen auch der Saxofonist Isaiah Collier und seine Band The Chosen Few. Der erst Mittzwanziger aus Chicago präsentiert sich in Tampere als Reinkarnation von John Coltrane, so spirituell und intensiv spielen er und seine drei Jungs auf. Das Quartett lässt keine Zeit zum Luftholen, das ganze Set ist eine Tour de Force mit donnernden Drums, die Jazzgeschichte mit viel Vorwärtsdrang ins Hier und Heute holt. Dass direkt im Anschluss mit Drummer Hamid Drake und seinem schillernden Alice Coltrane-Projekt Turiya gleich noch einmal dem großen Namen Coltrane gehuldigt wird –damit beweist der künstlerische Leiter und Produzent des Festivals, Juhamatti Kauppinen, viel Feinsinn für eine spannender Programmierung.   
 
Am Eröffnungsabend und zum Festivalausklang gibt es Musik mit freiem Eintritt. Auch um ein neues, ein junges Publikum zum Jazz zu locken. Die Rechnung geht auf, eine lange Schlange bildet sich am Eingang zum Festivalauftakt. Und der neugierige Musikliebhaber wird gleich bei der ersten von drei jungen Bands aus Finnland und Norwegen gefordert. Denn das finnisch-norwegische Ville Lähteenmäki Trio um den heißlaufenden finnischen Bassklarinettisten Ville Lähteenmäki spielt drängend, freigeistig, wild, wütend. Man hört den Einfluss spirituell orientierter Jazzgrößen, vielfach Saxofonisten, längst vergangener Jahrzehnte, doch hier begibt sich einer auf seinem Instrument auf seinen eigenen Trip. Und mit dem norwegischen Trio I Like To Sleep und ihrem Power Jazz/Prog Rock, gespielt auf Vibrafon, Bariton-Gitarre und krachenden Drums, klingt das Festival stürmisch aus.  
 
Was das Tampere Jazz Happening sehr angenehm macht: Alle drei Venues sind nah beieinander, zwei davon, der große Saal Pakkahuone und der kleine, „Klubi“, gar im gleichen Gebäude, einem alten Zollhaus. Und das Restaurant und Theater Telakka liegt nur eine Gehminute entfernt. Dort stellen sich an zwei der vier Festivalabende finnische Bands aller Couleur vor. Etwa die Sängerin und Komponistin Selma Savolainen aus Helsinki, die mit ihrem Sextett mit dem bedeutungsvollen Namen Horror Vacui allerdings überhaupt keine Angst vor der Leere zeigt, sondern mit ihren eigenwilligen, textlich vielleicht nicht immer überzeugenden Indie-Jazz-Songs eine frische Facette in den modernen Jazz bringt. Beim Joona Toivanen Trio muss man als Zuhörer Geduld mitbringen, denn der Pianist und seine beiden Mitstreiter lassen sich Zeit beim Aufbau ihrer introspektiven Klangbilder. Aber dafür bekommt man ein akustisches Pianotrio zu hören, das nach neuen Wegen für einen ganz eigenen Bandsound sucht.
   
Text: Christoph Giese; Fotos: Maarit Kytöharju & Rami Marjamäki


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Viljandi Guitar Festival 2022
Viljandi, Estland
 
Chris Thile kann es einfach nicht glauben. Da ist er das erste Mal in Estland und dann auch noch in einer Kleinstadt im Süden des Landes, die allerdings als Kulturhauptstadt Estlands gilt. Und der Konzertsaal ist voll, das Publikum total begeistert von ihm und singt sogar textsicher mit bei einem von ihm komponierten Stück. Der US-amerikanische Mandolinen-Wizard zeigt beim Viljandi Guitar Festival was er alles auf seinem Instrument kann. Bach wie selbstverständlich neben Bartók setzen, einer Radiohead-Nummer ganz persönlichen Schliff geben. Aber man muss es auch mögen, dass da jemand anderthalb Stunden auf der Bühne Solo-Mandoline spielt, sich gelegentlich dabei selbst mit Gesang begleitet, Fiddle Tunes intoniert und auch sonst sehr folkloristisch daherkommt.
 
Was dieser Auftritt aber ganz klar zeigt: Dieses Festival, das in diesem Jahr seinen 15. Geburtstag feiert, will offen sein für viele Musikrichtungen, kein reines Jazzfestival sein, auch wenn der Festivalgründer und immer noch Leiter, Ain Agan, selbst Jazzgitarrist ist. Aber natürlich gibt es auch guten Jazz im hübschen kleinen Ort Viljandi zu hören. Etwa vom jungen estnischen Gitarristen Jaagup Jürgel mit seinem Trio und unterhaltenden Klängen aus eigenen Stücken und Jazzstandards. Jürgel hatte im letzten Jahr den alljährlich beim Festival verliehenen Tiit Paulus Young Guitarist Award gewonnen. Er stammt aus der Region, hat in Tartu studiert. Der regionale Bezug - auch das macht dieses Festival aus.
 
Janno Trump aus Estlands Hauptstadt Tallinn brachte sein Clarity Ensemble mit nach Viljandi, um das im Frühjahr erschienene, erste Album dieser ungewöhnlichen Formation, Up North, live zu präsentieren. Warum er mit dieser Band die Besetzung eines Klaviertrios mit einem Streichquartett paart, das viel Raum bekommt, kann der Bassist selbst gar nicht so genau erklären. Er liebe einfach das Arrangieren, erzählt der sympathische Musiker auf Nachfrage in Viljandi. Und wunderbar arrangiert sind seine fließenden Jazznummern, die durchzogen sind von einer nordischen Ästhetik, und die ihren kammermusikalischen Rahmen immer wieder mal verlassen, um funkig zu grooven.
 
Zwei Brasilianer an zwei Gitarren, die eine akustisch, die andere eine E-Gitarre. In dieser Besetzung verzaubern Daniel Santiago & Pedro Martins im Estonian Traditional Music Centre, dem 2008 fertig gestellten Hauptspielort des Festivals. Ein Gebäude mit langer Geschichte, direkt neben den Ruinen der alten Burganlage der Stadt gelegen, das nun zwei gut klingende (Konzert-)Säle, eine Bibliothek im Keller und Gastronomie zu bieten hat. Das Center organisiert auch das jährlich weit über die Landesgrenzen hinaus bekannte Viljandi Folk Music Festival. Und da sitzen die beiden Brasilianer nun im großen Saal des Centers und spielen zarte, berührende Klänge, die so gar nicht in die Klischees von brasilianischer Musik passen wollen. Wie sich das Spiel der beiden gegenseitig ergänzt und miteinander verzahnt – wunderschön. Dass US-Gitarrist Kurt Rosenwinkel, der den Abend dann mit seinem formidablen Trio und ideenreichen, weil ganz eigenwilligen Interpretationen von Jazzstandards auf höchstem Niveau beendet, die beiden Brasilianer längst auf seinem eigenen Label Heartcore Records untergebracht hat, ist kein Wunder.
 
Im Café-Restaurant Fellin im Herzen der Stadt spielt am Eröffnungsabend das fein swingende, estnische Gypsy Jazz-Quartett Titoks. Nicht nur ist dieser Ort urgemütlich mit seinem lässigen, bohemischen Vibe, es lässt sich auch lecker essen dort. Hat jetzt sogar der Guide Michelin festgestellt und positiv bewertet. Und man kann sich dieser Meinung nur anschließen. In den allabendlichen Jam Sessions zeigen dann junge Studenten der heimischen Musikakademie in der ebenfalls hippen Keller-Weinbar Mulks ihr Können. Viljandi ist eine Kultur- und Musikstadt, das ist auch hier wieder hörbar.    
 
https://viljandiguitar.ee/en/
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Rene Jakobson


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NUEJAZZ 2022
Nürnberg
 
Mathias Eick sieht glücklich aus. Das Publikum bejubelt ihn und seine gefühlvolle, hymnisch verträumte, aber rhythmisch auch mal zupackende  Musik. Seine beseelten Trompetenklänge kommen bestens an. Der Norweger, er hat auch persönlich einen Bezug zum Süden Deutschlands. Eine seiner Großmütter lebte in Ravensburg. Und so spielt er beim NUEJAZZ-Festival auch aus seinem Album Ravensburg. Nach so viel Emotionalität hätte es das Julian Lage Trio im direkten Anschluss vielleicht schwer haben können, den ausverkauften großen Saal des Festival-Hauptspielortes, der Kulturwerkstatt Auf AEG im Westen Nürnbergs, noch einmal so in Stimmung zu bringen. Aber dem US-Gitarristen und seinen beiden starken Partnern Jorge Roeder am Bass und Eric Doob am Schlagzeug gelingt es im Handumdrehen das Publikum weiterhin zu einem dauerhaften Lächeln zu bringen. Ohne Kraftmeiereien und dicke Klangwolken kommt Julian Lage dabei charismatisch rüber, verzückt mit seinen Klangbildern und Improvisationen, die trotz aller Reminiszenzen an die Musikgeschichte und Musikstile seines Landes doch immer nach ihm selbst klingen.
 
Das NUEJAZZ-Festival setzt auch auf hier noch unbekannte Namen. Oder schon mal vom Balimaya Project oder dem Neue Grafik Ensemble gehört? Beide Bands sind in London beheimatet und bieten Konzerte für ein neugieriges Publikum. Beim zehnköpfigen, von gleich mehreren Perkussionisten angetriebenen Balimaya Project basiert der groovende Afro-Jazz auf der traditionellen Mande-Musik Westafrikas. Saxofon und Trompete tupfen jazzige Noten, die Kora erinnert an die Wurzeln. Bandleader Yahael Camara Onono, Londoner Perkussionist mit westafrikanischen Wurzeln, kreiert mit seiner Truppe, die in Großbritannien lebenden Instrumentalisten mit afrikanischen Wurzeln eine musikalische Heimat mit Verbindung zu ihren Roots bietet, Unterhaltsames mit Dancefloor-Tauglichkeit. Neue Grafik nennt sich der in London lebende, afro-französische Keyboarder, House-DJ und Produzent Fred N´Thepe, der mit seinem nach ihm benannten Ensemble, angeschoben von treibenden Broken Beats vom Schlagzeug, einen funkigen, energiegeladenen NuJazz spielt, der das Genre sicher nicht neu erfindet, aber live in Nürnberg doch viel Spaß macht.    
 
Auch das vor sechs Jahren von der britischen Altsaxofonistin Cassie Kinoshi gegründete Ensemble SEED ist zehnköpfig. Blue Note-Sounds treffen auf Soul, Afro und treibende Grooves. Die Bandleaderin hat die Musik ausgeklügelt, manchmal fast klinisch unterkühlt arrangiert und überlässt ihren Musikern mehr das Feld für Soloausflüge als dass sie selbst Glanzpunkte setzen muss. Songs mit politischen Botschaften zu präsentieren, auch das ist der knapp 30-jährigen Kinoshi wichtig. So klingt manches wütend an diesem Abend, auch durch die Wucht der sechs Bläser in der Band. Und bleibt dabei doch immer in der Spur. Sängerin und Musikerin  Melanie Charles ist dagegen eine echte Rampensau. Wie die US-Amerikanerin mit haitianischen Wurzeln Originale, etwa einer Dinah Washington oder Abbey Lincoln, aufgreift, mit deren Samples spielt und sie dann in die Neuzeit überführt und so ganz anders interpretiert mit ihrer Riesenstimme und Coolness, angetrieben von Drummer und Keyboarder, das ist hip. Dieser Mix aus Jazz, Soul und ein wenig Karibischem verführt und verfehlt seine Wirkung nicht beim erfreulich jungen Publikum im Z-Bau, dem zweiten und größten Spielort des Festivals.
 
NUEJAZZ machte richtig Spaß, auch mit seinem London-Schwerpunkt im Programm. Und mit Entdeckungen, die junge Leute ansprachen und diese in großer Zahl anlockten, vor allem an den letzten beiden Festivaltagen. Und dabei war der geplante Topact Yussef Dayes nicht einmal da. Der angesagte britische Drummer musste kurzfristig aus gesundheitlichen Gründen seinen heiß erwarteten Auftritt absagen. Die beiden Festivalmacher Frank Wuppinger und Marco Kühnl, beide selbst professionelle Jazzmusiker, haben ein spannendes Festival entwickelt, das mit einigen Gratiskonzerten und einem Nachmittag für Kinder zudem neue Interessierte zum Jazz lockt. Im kommenden Jahr feiert NUEJAZZ übrigens seinen 10. Geburtstag. Und darf sicher schon jetzt voller Zuversicht in die Zukunft schauen.
 
https://www.nuejazz.de/
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Leon Greiner


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Redman-Mehldau-McBride-Blade in der Essener Philharmonie
 
Joshua Redman – Saxofone
Brad Mehldau – Klavier
Christian McBride – Kontrabass
Brian Blade – Schlagzeug
 
Irgendwann Mitte der 1990er war es. Da hieß das Katakomben-Theater in Rüttenscheid noch Satiricon. Und eines Abends schauten vier junge Löwen dort für einen Auftritt vorbei. „Young Lions“, so nannte man damals junge US-Jazzer, die den Mainstream Jazz neu beleuchteten. Der Saxofonist Joshua Redman und sein Quartett gehörten dazu. Sie hatten das erregende Album „MoodSwing“ im Gepäck und sorgten für ein unvergessliches Konzert.
 
Vor zwei Jahren haben sich die alten Freunde wieder zusammengetan, auch wenn sie sich all die Jahre nie aus den Augen verloren haben und in unterschiedlichen Konstellationen auch immer wieder zusammen Musik machten. Aber eben nicht als das Quartett von damals. Joshua Redman, Brad Mehldau, Christian McBride und Brian Blade sind alle längst Weltstars des Jazz. Und so stehen sie jetzt auch gleichberechtigt mit ihren Namen nebeneinander auf der Eintrittskarte für den „MoodSwing Reunion-Abend“ in der prächtig besuchten Philharmonie, wo sie mit Songs der beiden neuen Alben, aber auch mit Klassikern von „MoodSwing“ brillieren.
 
Ist ein Song wie „Rejoice“ wirklich schon  fast 30 Jahre alt? Er klingt immer noch so hitzig wie damals, weil Redman noch der drängende Bläser sein kann, Mehldau mit fiebernden Pianoläufen und überraschenden Akkorden so viele Farben in die Musik zeichnet, weil McBride so herrliche Kontrapunkte auf dem akustischen Tieftöner setzt und nebenbei noch wahnsinnig groovt. Und weil da mit Brian Blade ein Schlagzeuger am Werk ist, der so nuanciert anschiebt, verdichtet und melodisch akzentuiert und kommentiert, dass man das kaum glauben kann.
 
Man hört dieser Band die dazu gewonnene Erfahrung an. Schon damals waren die vier aufregend. Sie sind es noch immer. Und sie bringen den Spaß des Miteinander, des sich gegenseitig Bälle zuwerfen, auch noch wunderbar rüber. Ein Erlebnis, und trotz aller Rückblicke noch immer absolut zeitgemäß.
 
Text: Christoph Giese
Foto: Michael Wilson


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Vilnius Jazz 2022
Vilnius, Litauen
 
Kalt ist es im Alten Theater Vilnius, das bei der letzten Ausgabe von Vilnius Jazz noch Russisches Drama Theater hieß. Aber da hatte Putin auch noch nicht die Ukraine überfallen. Die Jacke oder den Mantel lässt man an den vier Festivalabenden besser an. Aber die Kälte liegt nicht an fehlendem Gas in Litauens Hauptstadt, sondern daran dass die zentralen Heizungen im Herbst in der ganzen Stadt aufgrund der Temperaturen noch nicht angestellt wurden. Aber zum Glück hat Antanas Gustys für die Jubiläumsausgabe des ältesten Jazzfestivals der litauischen Hauptstadt, das in diesem Jahr seinen 35. Geburtstag feiert, viel erwärmende Kunst im Angebot.
 
Gleich das erste Konzert am ersten Abend ist ein Knaller. Die Musik des Trios des britischen Pianisten Alexander Hawkins ist zugleich zugänglich wie abenteuerlich, pendelt zwischen komponierten Strukturen und hoch spannenden improvisatorischen Ausarbeitungen der Freiräume darin. Dabei entpuppt sich Stephen Davis als grandioser Rhythmengeber, der sehr kreativ mit den offenen Räumen arbeitet, während Kontrabassist Neil Charles das perfekte Verbindungsglied zwischen Klavier und Schlagwerk ist. Klangsuche und rauschhaft Fließendes, angereichert mit gesampelten Sounds – dieses Trio aus Großbritannien ist in jedem Moment so erfrischend, weil so voller Überraschungen.     
 
Klangsucher sind auch Saxofonist und Pianist Petras Vyšniauskas und Drummer Arkady Gotesman, zwei absolute Legenden des litauischen Jazz, die schon im Jahr 1990 als Duo PetrArka debütierten. Und jetzt im Theatersaal mit fein gesponnenen Dialogen so spannend unterhalten. Was Gotesman auf unterschiedlichsten Trommeln zu Gehör bringt, kommentiert Vyšniauskas immer kreativ, sehr oft übrigens auf dem Klavier, auch wenn die Saxofone ja eigentlich seine Hauptinstrumente sind. Spirituell wird es dagegen beim Tributkonzert für Alice Coltrane mit Hamid Drake´s Turiya. Der legendäre US-Drummer kommt mit einem Septett nach Vilnius, mit illustren Beteiligten wie dem US-Tastenmann Jamie Saft, dem norwegischen Sample-Spezialisten Jan Bang oder der portugiesischen Trompeterin Susana Santos Silva. Und mit einer sensiblen und imaginären Transformation einer unsterblichen Künstlerin wie es Alice Coltrane immer sein wird.    
 
Nach den abendlichen Konzerten in dem wunderschönen Alten Theater Vilnius lockt eine Night Stage die ersten drei Festivalnächte vor allem viele junge Leute zu dem hippen Opera Social House, direkt gegenüber der imposanten Oper von Vilnius gelegen. Hier zeigen vor allem junge und zumeist litauische Musiker, was sie so drauf haben und dass sie im improvisierten Jazz eine Menge zu erzählen haben. Man war gespannt auf die Band Vėjeliai von Dalius Naujokaitis, keiner der ganz Jungen mehr. Aber einer der spannendsten litauischen Jazzer, der im vergangenen Jahr noch auf der großen Festivalbühne mit einem gigantischen Spektakel mit über 50 beteiligten Musikern für Staunen sorgte. Doch der Drummer erkrankte kurzfristig, aber seine sechsköpfige, mit jungen Litauern besetzte Band hatte mit Ignas Kasikauskas an den Drums einen großartigen Ersatz und riss mit ihrem Free-Funk-Jazz das Publikum mit. Auch der im großen Theatersaal an einem Nachmittag stattfindende Wettbewerb Vilnius Jazz Young Power, den Antanas Gustys schon seit siebzehn Jahren in sein Festival integriert hat, zeigt mit Bands wie der litauisch-dänischen Formation SNUS oder den späteren Wettbewerbs-Gewinnern, dem Trio Quark Effect, dass die junge litauische Jazzszene Mutiges und Innovatives zu bieten hat.  
 
Für die berührendsten Momente sorgt in Vilnius aber ein anderer, der Pianist Vadim Neselovskyi. Der Ukrainer, geboren in Odessa, ein paar Jahre in Dortmund lebend und in Essen und Detmold studierend, wohnt inzwischen in Boston, wo er am Berklee College of Music Professor ist. Mit vielen Jazzlegenden hat der Mittvierziger gespielt und zusammengearbeitet, aber in Vilnius zeigt wie magisch er solo am Klavier ist. Neselovskyi stellte seine mehrteilige Suite Odesa vor, deren Titel bewusst nur mit einem „s“ geschrieben ist. Es ist die ukrainische Schreibweise der Stadt. Komponiert schon vor Kriegsausbruch, hat Odesa eine erschreckende Aktualität bekommen und nimmt den Zuhörer gefangen auf einer musikalischen Reise durch die Heimatstadt des Pianisten. Perkussive Feuerwerke, osteuropäisch gefärbte, melodische Motive, viele plötzliche Brüche, etwa von aufwühlendem Tastenspiel in urplötzlich übernehmende, fast stille Melancholie – Vadim Neselovskyi lässt den Zuhörer Odessa spüren. Mal sind es Töne wie Schneeflocken, wenn er auf den Tasten vom Winter in der Stadt erzählt. Dann treibt ein Beat ordentlich voran und man ist im Bahnhof von Odessa angelangt. Wie sehr ihn die aktuelle Situation in seiner Heimat schmerzt und bewegt, der Ukrainer vermittelt diese Gefühle atmosphärisch wunderbar eingefangen auf dem Konzertflügel. Bewegend, einzigartig, ganz große Kunst!
 
https://www.vilniusjazz.lt/
Text: Christoph Giese; Fotos: Vygintas Skaraitis & Greta Skaraitiene


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PUNKT Festival 2022
Kristiansand, Norwegen
 
Beinahe wäre es abgerissen worden vor einigen Jahren. Doch es gab Menschen in Kristiansand die das einige Jahre unbenutzte, ehemalige Agder Teater retten wollten, was ihnen letztendlich auch gelang. Es wurde inzwischen als Teateret wiedereröffnet. Im Foyer hat sich einiges getan, mit einer schicken Bar nebst leckerer Küche. Aber im großen Konzertsaal ist noch immer die alte, schon damals ausbesserungswürdige Bestuhlung unverändert geblieben. Das Theater ist die Heimat von PUNKT. Hier fing 2005 alles an. Sieben Jahre lang fand dieses besondere Live Remix-Festival dort statt. Danach hieß es neue Spielstätten suchen und finden. Vieles wurde ausprobiert. Etwa das damals nagelneu eröffnete schicke Konzerthaus Kilden. Oder ein Musikclub. Ein Jahr war auch das örtliche Kino mit seinen Sälen Spielort von PUNKT, in Coronazeiten dann der Konferenzsaal im obersten Stockwerk des langjährigen Festivalhotels.
 
Doch beim jetzt wieder erstmaligen Betreten des großen Saales im Teateret sind die schönen Erinnerungen an früher gleich wieder da. Und hier gehört PUNKT auch hin! Und dann gibt es gleich zum Festivalauftakt einen Abend mit großen Gefühlen, mit einem Tribut-Konzert anlässlich des 70. Geburtstages in diesem Jahr von Sidsel Endresen. Die norwegische Sängerin hat PUNKT über die Jahre geprägt, mit unvergessenen Auftritten. Dieses Mal saß sie in der ersten Reihe im Saal und sah auf der Bühne diverse Wegbegleiter ihrer langen Karriere, wie die beiden PUNKT-Masterminds Jan Bang und Erik Honoré, Bugge Wesseltoft, Solveig Slettahjell, Nils Petter Molvær, Stian Westerhus, Django Bates oder David Toop, die in unterschiedlichen, kleineren Formationen eine berührende Hommage ablieferten.
 
Eine spannende Premiere gab es am nächsten Abend. Das PUNKT-Team hat mit dem Punkt Editions Label jetzt ein Sublabel bei Bugge Wesseltofts Plattenfirma Jazzland gegründet um künftig PUNKT-bezogene Musik wie Solo-Aufnahmen der beiden Festivalgrüner, Liveaufnahmen oder Kollaborationen zu veröffentlichten. Das Debütalbum des neuen Labels ist bereits da: Jan Bang und Dai Fujikura stellten in Kristiansand The Bow Maker in einem großen Label Launch-Konzert vor, das im zweiten Konzertteil schon auf Bangs kommendes Soloalbum Reading the Air blickte, das im kommenden Februar oder März erscheinen wird. Die Bühne war voll mit exquisiten Musikern, die einen weiten Bogen schlugen, von magischen Soundscapes hin zu den sanften, popsongorientierten Liedern von Reading the Air, bei denen Electronic Guru Jan Bang sich das Gesangsmikro mit singenden Kolleginnen wie der Deutschen Simin Tander oder der Deutsch-Norwegerin Annelie Drecker teilte.
 
Noch immer faszinieren die Live Remixe bei diesem Festival. Und wie früher muss man nun wieder schnell vom großen Theatersaal in den kleinen Kellerraum laufen, wo der jeweilige Live Remix bei der Ankunft schon gestartet ist. Großartig was Eivind Aarset, Jan Bang und Erik Honoré aus dem zwar schon strukturierten, aber doch ziemlich freigeistigen Konzert der estnischen Pianistin Kirke Karja und ihrem neuen Trio machten. Langsam aufbauend verwoben sich Fragmente des Originalkonzertes geschickt mit einem elektronischen Klangkosmos, der zum Ende zu einem mitreißenden Klangozean anschwoll.
 
Ein ganz besonderes Projekt auf der großen Bühne war Avant Joik von Sängerin und Elektronikern Maja S.K. Ratkje, Sängerin Katarina Baaruk und Visual Artist Matti Aikio. Joik, der traditionelle Gesang der Samen, der Ureinwohner Lapplands, trifft hier auf experimentellen Gesang und elektronische Sounds und entfaltet im Zusammenspiel eine große, beinahe spirituelle Energie, auch dank der eindringlichen, kraftvollen Stimme der Schwedin Katarina Baaruk.
 
Was sonst noch in Erinnerung bleibt von PUNKT 2022? Das sehr belebende Schweizer Trio Heinz Herbert. Kurioser Bandname, total erfrischende Musik zwischen den Stühlen. Interessante morgendliche Seminare, etwa mit Geburtstagskind Sidsel Endresen. Und die wie immer so angenehme, familiäre Atmosphäre bei diesem einzigartigen Festival im Süden Norwegens.
 
https://punktfestival.no/
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Alf Solbakken


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Riga Ritmi 2022
Riga, Lettland
 
Was für eine Power hat diese Frau. Und was für eine Ausstrahlung. Jabu Morales ist das Herz und der Pulsschlag von AYOM. Das wird klar, wenn man die Multi-Kulti-Band mit Mitgliedern aus Angola, Griechenland und Italien auf der Bühne im großen Garten der Kathedrale von Riga erlebt. Die Brasilianerin ist nicht nur charismatische Sängerin und Perkussionistin des derzeit so angesagten Sextetts, sondern wirbelt und tänzelt auch über die Bühne, um am Ende der Show mit Frevo-Tanzschritten endgültig für Begeisterungsstürme zu sorgen. Aber zu diesem Zeitpunkt haben sie und ihre fünf Jungs an E-Gitarre, E-Bass, noch zwei mal Perkussion und Akkordeon das zunächst etwas reservierte lettische Publikum ohnehin schon von den Stühlen geholt und zum Mittanzen gebracht. Was eigentlich auch nicht schwerfällt bei ihrer afrolusitanischen Black Atlantic Music, wie sie ihren belebenden Weltmusik-Mix mit Einflüssen aus Brasilien, den Kapverden, Angola, Portugal und weiteren mediterranen Ländern selbst nennen.
 
Wie schön war es überhaupt wieder ein Konzert mit vielen Menschen bei Rigas Ritmi erleben zu können. Im vergangenen Sommer fand das Festival zwar auch statt, doch die Zurückhaltung war beim Publikum mehr als spürbar. So sah Festivalmacher Maris Briežkalns dieses Mal auch deutlich zufriedener aus. Wohl auch, weil der Topact in diesem Jahr bestens beim zahlreichen Publikum ankam. Die Modern Standard Supergroup um Drummer Billy Cobham, Trompeter Randy Brecker, Saxofonist Bill Evans, Pianist Niels Lan Doky und Bassist Linley Marthe überraschte und das durchaus positiv, weil sie nicht Jazzstandards spielte, sondern Stücke von Shakira und den Black Eyed Peas, Taylor Swift, Bruno Mars oder sogar K-Pop als Vorlagen für jazziges Interplay und Improvisieren nahmen. Das war zumindest unterhaltsam und klasse gespielt, wenn auch nicht unbedingt wahnsinnig aufregend.
 
Prima unterhalten ist auch das Ding von US-Sänger, Gitarrist und Pianist Clark Beckham, der seine Karriere einst bei der Talentshow American Idol startete. Und in Riga jetzt mit Songs von Stevie Wonder, James Brown, aber auch Selbstgeschriebenem, durchaus zu gefallen wusste. Denn Singen kann der 30-jährige, und über Entertainer-Qualitäten verfügt der sympathische Musiker aus Nashville auch.
 
Wie schon 2021 gab es parallel wieder eine kleine Bühne in dem coolen, halboffenen Kunstzentrum Noass, direkt am Riesenfluss Daugava gelegen. Das Vinyl-Plattenlabel Jersika Records von Mareks Ameriks sorgte wieder für dieses kleine Festival im Festival, wo man etwa das feine Orgeltrio von Tastenmann Atis Andersons und neben einigen ausländischen Künstlern auch weitere lettische Musiker und Bands entdecken konnte. Und wem das nicht genug Musik war, der konnte die in diesem Jahr tropischen Tage und Nächte in Lettlands besuchenswerter Hauptstadt in der angenehm gekühlten Bar eines großen Hotels bei den allabendlichen Jam Sessions ausklingen lassen.
 
www.rigasritmi.lv
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Rigas Ritmi


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Look into the Future IV 2022
 
So ein grenzüberschreitendes, interdisziplinäres Festival gestalten zu dürfen muss sich für die beiden Kreusch-Brüder genial anfühlen, sind Pianist Cornelius Claudio Kreusch und Gitarrist Johannes Tonio Kreusch doch ohnehin vielseitig interessiert, was sie mit dem Veranstalten diverser Konzertreihen eindrucksvoll zeigen. Dieser offene Blick auf Kultur spiegelt auch ihr Look into the Future-Festival wunderbar wieder, das sie 2018 gemeinsam mit dem Kulturbüro der Stadt Burghausen aus der Taufe hoben. Trifft in der alten, oberbayerischen Herzogsstadt doch Musik unterschiedlicher Couleur auf Film, Tanz und Bildende Kunst.
 
Was den beiden umtriebigen Festivalmachern dabei wichtig ist bei diesem viertägigen Event, das sind die Gesprächsrunden mit den beteiligten Künstlern. Der Pressesprecher der Hamburger Elbphilharmonie, Tom R. Schulz, bringt dabei auf wunderbare Weise dem interessierten Publikum die Künstler wirklich näher, auch mit privaten Aussagen, die kurz zuvor noch aufgetreten sind. Gleich am ersten Abend erfährt man im traumhaften Ambiente des Roten Saals im Kloster Raitenhaslach vom Lautenisten und Gitarristen Edin Karamazov, wie er an Musik herangeht, was er vom Improvisieren hält und auch von seiner Zusammenarbeit mit Weltstar Sting. Den Bosnier zur Eröffnung spielen zu lassen hätte ohnehin nicht besser gewählt sein können, setzt er doch fingerfertig das Festivalmotto musikalisch perfekt um. Mit Renaissance-Musik auf der Erzlaute zunächst, nach einer Pause dann mit einem Blick in neuere Zeiten auf der Konzertgitarre mit Stücken von Rachmaninoff bis Leo Brouwer.
 
Die wenige Kilometer von Burghausen entfernte, denkmalgeschützte Klosteranlage Raitenhaslach ist ein perfekter Spielort für solche Konzerte. Aber auch spannende Spielstätten in der Burghausener Altstadt werden eingebunden. Etwa der Ankersaal, ein herrliches altes Kino aus den 1950ern. Dort wird im Rahmen des Festivals immer ein Stummfilm neu vertont. Simon Stockhausen hatte in diesem Jahr die Mammutaufgabe Fritz Langs 160-minütiges Science Fiction-Abenteuer „Frau im Mond“ aus dem Jahre 1929 mit neuen Klängen zu versehen. Noch nie zuvor habe er so etwas gemacht, gab Stockhausen anschließend zu. Kaum zu glauben, hätte man darauf antworten wollen. Denn sein „komprovisierter“ Soundtrack aus Saxofon, Stimmen, Perkussionen und Live-Elektronik verstärkte nicht nur die ganze Dramatik des Films, sondern hob einen der letzten deutschen Stummfilme auf ein neues, ein aufregendes Level.
 
Pianistin Aki Takase brillierte in ihrem Solokonzert mit harten Attacken auf die schwarz-weißen Klaviertasten, mit brachialem, rustikalem Spiel, aber auch Sinn für Verspieltheit und Romantik. Was ist die kleine Japanerin doch für eine große Künstlerin. Ob sie nun Fremdes ganz eigenwillig zitiert oder eigene Stücke präsentiert. Immer sind ihre Konzerte voller Überraschungen. So auch jetzt in Burghausen, als sie am Ende ihres Auftritts plötzlich noch die Mezzosopranistin Mayumi Nakamura auf die Bühne holte und das musikalische Geschehen in Richtung Oper lenkte.
 
Was gab es noch Spannendes bei Look into the Future 2022? Kreativen (Step-)Tanz mit Tamango in einer Kirche zum Beispiel. Von den Holzskulpturen und einer großen Installation aus Absperrband von Heiko Börner inspiriert, bewegte sich der New Yorker Tänzer durch die Ausstellung in der Kirche und verblüffte mit seinen improvisierten Bewegungen und Rhythmen. Und mit ihrem „Stubenjazz“ zeigte die Band um Trompeter Michael T. Otto beim Frühschoppen am letzten Festivaltag, wie gewitzt sich altes deutsches Liedgut in ein bisweilen leicht schräges, zeitgenössisches Jazzgewand kleiden lässt.
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Rolo Zollner


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33. Schaffhauser Jazzfestival
 
Wenn man erzählt, man fahre nach Schaffhausen, kommt als erstes: Ah, der Rheinfall. Ja, der Rheinfall, Europas größter Wasserfall, liegt nicht weit entfernt von der nördlichsten Stadt in der Schweiz. Eine Stadt mit einem wunderschönen historischen Stadtkern, über dem die Festung Munot aus dem 16. Jahrhundert thront.
 
Und Schaffhausen ist auch eine Stadt des Jazz, zumindest einmal im Jahr. Denn seit 33 Jahren findet in der Stadt das Schaffhauser Jazzfestival statt. Ein spannendes Event, weil es den Fokus auf die heimische, die Schweizer Jazzszene richtet. Da verwundert es ein wenig dass beim Eröffnungsduo am ersten Festivalabend im Kulturzentrum Kammgarn, einer ehemaligen Kammgarn-Spinnerei, gar kein Schweizer dabei ist. Aber beide Akteure des Obradović –Tixier Duo haben in der Schweiz studiert. Die kroatische Schlagzeugerin Lada Obradović und der französische Pianist David Tixier sind auf der Bühne und im Leben ein Paar. Ein wundervolles, denn wie sich polyrhythmisch geklopfte Grooves mit den angenehmen Harmonien von Klavier, Keyboards und gesampelten Sounds von Grillengezirpe, Regenwetter bis hin zu dumpfem Grollen zu atmosphärisch dichten Klangcollagen verbindet, das ist eigenwillig und anregend. Die weitestgehend durchkomponierte Musik wird an einigen Stellen immer wieder schön aufgebrochen. Eine Entdeckung, dieses Duo!
 
Eine weitere Zweierkonstellation bot ebenfalls Ungewöhnliches für die Ohren, aber auch Augen. Während Gitarrist Manuel Troller atmosphärische, beinahe meditative und repetitive Klangfelder auf der E-Gitarre erzeugt, lässt sich Niklaus Troxler, der schon 75-Jährige Grafiker und Künstler und Gründer des Jazzfestival Willisau, dazu inspirieren, mit farbigen Klebebändern auf einer großen weißen Leinwand rätselhafte Muster zu kleben. Am Ende steht da die Botschaft „PEACE“ als klares Statement gegen das, was gerade in der Welt passiert.   
 
Kürzlich erst gewann der in der Schweiz lebende, deutsche Posaunist Nils Wogram mit seiner neuen Band Muse den Deutschen Jazzpreis für das gleichnamige Debütalbum dieses Quartetts, das nun auch in Schaffhausen seine ernsthafte Kunst zwischen Jazz, Kammermusik und Neuer Musik aufführte - mit Obertongesang und der ungewöhnlichen Instrumentierung von Posaune, Saxofon, Viola und Harfe. Ein Musikabenteuer, das vielleicht zu gleichförmig dahinschwebte. Aber stimmig und großartig gespielt ist dieses Projekt allemal.
 
Florian Favre präsentierte am Konzertflügel sein Soloprogramm „Idantitâ“, in dem er alte Volksmelodien seiner Heimat in der Westschweiz neu interpretiert. Mit grollenden Bässen, aber auch zarten Melodien und präpariertem Piano schuf der Pianist weitauslaufende, schöne Klanglandschaften. Wäre er doch bloß nicht auf die Idee gekommen, das Publikum irgendwann zum Mitsingen aufzufordern. Teile des Publikums machten zwar freudig mit, der Magie seines Auftritts waren diese Einlagen aber eher nicht förderlich.
 
An zwei Abenden am Wochenende gab es für die Festivalbesucher am späteren Abend eine Alternative zum großen Konzertsaal in der Kammgarn. Direkt gegenüber nämlich befindet sich der Musikraum TapTab, ein cooler, kleiner Club, wo sich zu einem kleinen Eintrittspreis die „Young Generation“ vorstellte. In Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern-Musik zeigte das Schaffhauser Jazzfestival eine Auswahl von Bachelor- und Masterprojekten von jungen Bands der Hochschule. Und wo am bestuhlten Hauptspielort ebenfalls viele noch junge Musiker auf der Bühne standen, das Publikum im Saal aber überwiegend einer älteren Generation angehörte, stand im TapTab in der Mehrzahl junges Publikum vor der Bühne. Dieses noch zahlreicher zum Festival zu locken, wird eine große Ausgabe des Schaffhauser Jazzfestivals sein in den kommenden Jahren, möchte man den erfreulich guten Publikumszuspruch in diesem Jahr weiterhin halten. Und wer sich dieses Mal die jungen Nachswuchsbands im Club angehört hat, der hätte vielleicht auch schon den beiden Großformationen im großen Saal etwa abgewinnen können. Denn was Sängerin Lucia Cadotsch mit Liun & The Science Fiction Orchestra und tags darauf die Saxofonistin Sarah Chaksad mit ihrem Large Ensemble zu bieten hatten, waren feine Arrangierkunst, zeitgeistige Klänge und ein bunter Strauß an Eindrücken und Klangfarben.
 
https://www.jazzfestival.ch/
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Peter Pfister


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An Evening with Branford Marsalis, Konzerthaus Essen 2022
 
Saxofon - Branford Marsalis
Klavier - Joey Calderazzo
Kontrabass - Eric Revis
Schlagzeug - Justin Faulkner
 
Eine kulturelle Relevanz gesteht er dem Jazz schon länger nicht mehr zu. Der Zug sei abgefahren, die Popmusik würde heute doch alles beherrschen, gab Branford Marsalis in einem Interview schon vor ein paar Jahren zu bedenken. Dennoch ist der erstgeborene Sprößling der musikalisch so begabten Marsalis-Familie dem Genre treu geblieben, auch wenn er früher selbst gerne mal über den musikalischen Tellerrand geschaut hat. Gott sei Dank spielt der US-Amerikaner immer noch Jazz, muss man nach einer Sternstunde in der Essener Philharmonie sagen.
 
Langes Aufwärmen brauchen der Saxofonist und seine Langzeit-Kollegen Joey Calderazzo am Piano, Eric Revis am Kontrabass und Justin Faulkner am Schlagzeug dabei nicht. Da fließt der erste Schweiß schnell, so aberwitzig rasant legt das Weltklasse-Quartett gleich mal los. Explosiv, mit rhythmischen Wendungen und Freiheiten für Improvisationen. Dabei sind die Melodien der Stücke immer der Ausgangspunkt. Auch als später im Konzert wilde Saxofon-Girlanden, Bassstakkati und auf die Klaviertasten regelrecht gehämmerte Schläge das Geschehen fast zum Bersten bringen vor überbordender Energie. Um dann plötzlich in ruhigen Bahnen weiter zu laufen.
 
Bop, Swing, eine sanfte Brasil-Nummer, New Orleans-getränktes, Rhythm & Blues oder soulgetränkte Ballade - das Spektrum dieser sehr unterhaltsamen Reise durch den Jazz ist breit. Was auffällt: Branford Marsalis gibt sich betont lässig, lässt seinen Mitstreitern immer wieder Raum. Er ist der Bandleader, aber auch gleichgestellt mit den anderen dreien. Auch das charakterisiert die Klasse dieser Band, die in Essen gut 100 pausenlose Minuten lang ziemlich verwöhnt hat.     
 
Text: Christoph Giese   Foto: Philharmonie Essen


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Riga Jazz Stage 2022
 
Zwei Jahre lang musste sich Māris Briežkalns nun gedulden bevor er seinen Talentwettbewerb für Jazzkünstler bis maximal 33 Jahre wieder stattfinden lassen konnte. Es gibt an den drei Tagen in Lettlands Hauptstadt Riga immer zwei Kategorien für die sich präsentierenden Solisten innerhalb des Wettbewerbs: Die erste ist Gesang, die zweite wechselt jährlich. In diesem Jahr durften sich für die zweite Kategorie Schlagzeuger bewerben, was Organistor Māris Briežkalns sicher besonders aufmerksam hat hinhören lassen, ist er doch selbst einer der prominentesten Drummer seines Landes, der schon mit Jazzgrößen wie Grover Wahsington, Jr. oder Frank Foster zusammenspielte, auf mehr als 70 CDs zu hören ist, weltweit getourt ist und auch noch als einer der Chefs beim lettischen Radio arbeitet. Ganz abgesehen davon, dass Briežkalns jeden Sommer auch noch das Festival Rigas Ritmi auf die Beine stellt.
 
23 junge Jazzkünstler haben es in die Endrunde in Riga bei der 13. Ausgabe der Jazz Stage geschafft. Interessanterweise waren alle Teilnehmer in der Sparte Gesang weiblich, während am Schlagzeug ausschließlich junge Männer trommelten. Nach der ersten Runde, an denen sich alle Beteiligten mit einem Stück ihrer Wahl vorstellen durften, kristallisierte sich nach vier langen Stunden heraus: technisch sind alle Teilnehmer top. Aber richtig Spannendes und Eigenes boten nur wenige. Die meisten interpretierten Jazzstandards, einige wenige auch eigene Songs. So wie die Italienerin Valentina Fin mit Emotionalität in einer Eigenkomposition auf Italienisch und einem Text inspiriert von der Poesie Bertold Brechts.
 
Die beiden Schlagzeuger Matias Fischer-Mogensen aus Dänemark und Domo Branch aus den USA brillierten nicht nur mit ihren polyrhythmischen Einfällen, sondern auch mit Frischheit und Vitalität, die aber nie Mittel ohne Zweck war. Die einzige deutsche Teilnehmerin, die in Berlin lebende, gebürtige Frankfurter Sängerin Amanda Becker entschied sich für was Brasilianisches und machte da vor allem beim Scatten eine ganz gute Figur.
 
Becker schaffte es wie die Italienerin (am Ende Zweitplatzierte) und die beiden Schlagzeuger aus Dänemark und USA ins Finale der besten 13 Teilnehmer aus beiden Kategorien, konnte da dann aber so gar nicht mehr überzeugen. Andere hatte da viel mehr Individualität zu bieten. Etwa die Türkin Eylul Ergul mit einem türkischen Lied, das sie gesanglich sehr fein in einem Jazzkontext kolorierte. Als zweiten Song allerdings wählte sie einen Jazzstandard, den sie in Englisch sang, wobei sie dann deutlich abfiel. Dass man mit dem Singen von Jazzstandards herausstechen kann, zeigte die Britin Louise Balkwill, die mit einer lässigen Dreckigkeit altbekanntes Material mit neuem Glanz versah. Mit der zudem überzeugendsten Bühnenpräsenz aller Sängerinnen wusste die in London lebende Vokalistin zusätzlich zu punkten. So war es dann keine Riesenüberraschung, dass Balkwill am Ende den Wettbewerb in der Sparte Gesang gewann – was ihr neben einem Geldpreis und einem neuen Mikrofon auch Einladungen in den Nardis Jazz Club in Istanbul, in den Ronnie Scott´s Jazz Club in London und zurück nach Riga zum Festival Riga Ritmi einbrachte.
 
Auch Drummer Domo Branch hatte diese Coolness und wusste mit dem Publikum zu kommunizieren. Gepaart mit seinen schlagzeugerischen Fähigkeiten war er der verdiente Gewinner bei den Trommlern. Und darf sich neben Geld und Geschenken ebenfalls auf einen Auftritt in Londons Ronnie Scott´s freuen.
 
Wie man Lässigkeit, Entertainment und großes Können an Becken und Trommeln miteinander paart, zeigte im Abschlusskonzert der diesjährige artist in residence Jamison Ross. Der US-Drummer und Sänger war Jury-Mitglied und gab einen Workshop, um abends dann zwischen Jazz, Soul oder Gospel mit seinem Trio das Publikum im wunderschönen alten Kino Splendid Palace, dem Spielort der Riga Jazz Stage, bestens zu unterhalten. Da konnten die Wettbewerbs-Teilnehmer sehen, wie man sich perfekt auf einer großen Bühne gibt.    
 
Nächstes Jahr im April geht die Riga Jazz Stage in die nächste Runde. Mit neuen Stimmen – und dem Saxofon als zweite Kategorie.
 
https://www.rigajazz.lv/en/
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Jānis Škapars (Riga Jazz Stage)


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51. Internationale Jazzwoche Burghausen 2022
 
Am Jazz kommt man in Burghausen nicht vorbei. Während der Internationalen Jazzwoche hängen in der pittoresken Altstadt unübersehbar viele Plakate und große Banner mit den Namen der Künstler, die an den sechs Tagen Festival in dem wunderschönen Ort an der deutsch-österreichischen Grenze auftreten. Aber das ganze Jahr über verfolgt einen der Jazz in Burghausen auf Schritt und Tritt, im wahrsten Sinne des Wortes. Denn in der alten Herzogstadt mit der weltlängsten Burg gibt es die Street Of Fame in der Flaniermeile der Altstadt. Ein Hauch von Hollywood verströmen die ins Straßenpflaster eingelassenen Reliefplatten aus Bronze mit den Namen der zahlreichen Jazzlegenden und Jazzgrößen, die in 50 Jahren Jazzwoche schon in Burghausen aufgetreten sind.
 
Ganz so klangvoll ist das Line-Up der aktuellen 51. Festivalausgabe nach zweijähriger Corona-Pause nicht geworden. Zumal dann auch noch die Stars Al Di Meola, Till Brönner, Richard Bona und John Helliwell, die beim wenig überzeugenden Projekt Mandoki Soulmates des ungarischen Schlagzeugers und Musikproduzenten Leslie Mandoki mitwirken sollten, alle nicht kamen – und den Grund dafür niemand dem Publikum erklärte.
 
Deutschlands populäre Soulröhre Joy Denalane war in Burghausen und in der großen Wackerhalle, wenn auch nicht wie geplant mit kompletter Band, sondern wegen einer kurzfristigen Corona-Erkrankung ihres Schlagzeugers nur im Duo mit Tastenmann Roberto Di Gioia. Letztendlich ein Glücksfall, denn die zwei auf der Bühne mussten das Programm modifizieren und dabei ziemlich improvisieren – woraus der Auftritt seine Spannung bezog.
 
Während US-Saxer Bill Evans mit seinen The Spy Killers! mit Drummer Wolfgang Haffner und knackigem Fusion-Jazz zu überzeugen wusste, blieb manch anderer Act wie die holländische Truppe Jungle By Night mit ihrer selbsternannten Analog Dance Music blass und wirkte in der großen, bestuhlten Wackerhalle vor einem zudem überwiegend älteren Publikum zudem ziemlich deplatziert.
 
Jüngere Leute zum Jazz locken, das schafften in Burghausen leider auch nicht zwei junge Künstlerinnen, die hintereinander im schönen Stadtsaal Ecken und Kanten in ihrer Kunst suchen. Mit ihrem modernen, dub-getränkten, vitalen Spiritual Jazz und langen Songs erinnerte die britische Saxofonistin Chelsea Carmichael in so manchen Momenten an ihren angesagten US-Kollegen Kamasi Washington, auch wenn sie von E-Gitarre, E-Bass und Schlagzeug begleitet nicht so opulent daherkommt und schon eine andere, aber aufregend-anregende Linie verfolgt. Und die Genfer Harfenistin Julie Campiche setzt ihr im Jazzkontext ja nicht so häufig gehörtes Instrument in ein elektronisches Umfeld. Und zauberte so ungewöhnliche Sounds aus der Harfe, die sich mit den Klängen ihrer mal traumverhangen, dann wieder zupackend aufspielenden Band perfekt mischten zu betörenden Klangbildern zwischen Ambient und modernem Jazz.
 
Ebenfalls im Stadtsaal fand ein Nachmittag unter dem Motto Next In Jazz statt. Da stellte sich neben dem Schweizer Quintett Ikarus und den österreichischen Shootingstars der letzten Jahre, Shake Stew, auch die junge Münchner Sängerin und Pianistin Alma Naidu mit ihrem Quartett vor. Klasse-Stimme, viel Ausdruck, aber Jazz ist es sicher eher nicht, was sie singt und spielt. Ob ihre poppigen Songs reichen um schon als Next Big German Jazz Thing gefeiert zu werden, wie das einige wohl schon tun?
 
Wer dagegen den Jazz ganz klassisch mochte, der war zum Ausklang aller sechs Festivalabende immer bestens im schönen Ambiente des Jazzkellers im Mautnerschloss aufgehoben, wo zu später Stunde ein vorzügliches Quartett um den Weilheimer Saxofon-Koloss Johannes Enders und dem Basler Pianisten Jean-Paul Brodbeck mit lupenreinem, klasse gespielten Straight Ahead Jazz bestens unterhielt. Momente, an denen Burghausen 2022 mit am meisten Spaß machte.
   
Text: Christoph  Giese,  Fotos: Elmar Petzold & Frank Rasimowitz


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Ayça Miraç Quartett im RWE Pavillon der Essener Philharmonie
 
Ayça Miraç -Gesang
Henrique Gomide - Klavier
Philipp Grußendorf - Kontrabass
Marcus Rieck - Schlagzeug
 
Die Geschichten ihrer Lieder sind sehr poetisch. Sie erzählen vom dem so besonderen Glitzer des Meeres in der Türkei, für den es keine deutsche Übersetzung gibt. Sie erzählen von Liebe, immer wieder vom Bosporus, von Istanbul, von der Türkei. Von der Heimat der Sängerin Ayça Miraç. Die ist zwar in Gelsenkirchen geboren und aufgewachsen, aber im Sommerurlaub ging es immer an den Bosporus zu den Verwandten.
 
Da hörte Ayça Miraç dann ihre Mutter lasisch sprechen mit Freunden und Verwandten, die Sprache des südkaukasischen Volkes der Lasen an der südöstlichen Schwarzmeerküste.  Das natürlich auch seine eigene Volkslied-Tradition hat. Diese Lieder und weiteres Volksliedgut aus der Türkei kombiniert das Quartett der Sängerin im RWE Pavillon mit eigenen Kompositionen, Gedichten des Vaters und behutsamen Jazz.
 
Es ist eine reizvolle Mischung - die archaischen Melodien und orientalischen Rhythmen im Verbund mit denen des Jazz. Daraus entstehen in der Philharmonie kreative, zumeist sehr intime  Dialoge, über die die glockenklare Stimme der Sängerin strahlt. Der mit feinem Tastenanschlag spielende, brasilianische Pianist Henrique Gomide, Bassist Philipp Grußendorf und Schlagzeuger Markus Rieck sind ein vorzügliches Jazztrio an der Seite der Sängerin, spielen jedoch meist in einem ähnlichem Duktus auf. Da hätte das Programm ein wenig mehr Abwechslung mit unterschiedlichen Stimmungen durchaus vertragen können.
 
Dennoch, der „Lazjazz“ der Ayça Miraç hat seine Spannungspunkte. Und hält alte Musiktraditionen lebendig und überführt sie dabei geschickt in neue Richtungen.   
CD-Tipp: Ayça Miraç „Lazjazz“
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Kurt Rade


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Mariza im Konzerthaus Dortmund
 
Wenn der eigene Vater in Lissabon schon eine Taverne betreibt, in der abends Fado gesungen wird, wie soll man da nicht irgendwann mit dem portugiesischen Sehnsuchtsblues in Berührung kommen. Bei Mariza passierte das schon sehr früh. Aber bis die in Mosambik geborene Tochter eines Portugiesen und einer Mosambikanerin zur weltberühmten Fadista wurde, war es ein langer und zunächst auch steiniger Weg.
 
Man kann es sich heute gar nicht mehr vorstellen, weil in Portugal seit Jahren ständig neue, frische Fadostimmen auch international ins Rampenlicht drängen, es eine quicklebendige Szene gibt. Aber nach dem Tod der Ikone des Genres, Amália Rodrigues, im Jahre 1999 gab es eine  Zeit wo sich nicht mehr viele besonders für den seit gut einem Jahrzehnt zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO zählenden Musikstil des Landes interessierten.
 
Alles Vergangenheit. Fado ist populär, Mariza ein Star, das Konzerthaus ausverkauft. Aber genau das ist auch das Problem ihres Auftritts in Dortmund. Die Frau mit dem wasserstoffblond gefärbten Kurzhaarschnitt weiß um ihr Standing und inszeniert sich inzwischen leider ein wenig zu sehr. Dabei hat sie den Fado vor Jahren so geschickt geöffnet, mit anderen Genres und Stimmungen verknüpft.
 
Neben drei Fado-typischen Gitarristen komplettieren ein Akkordeonist und ein Schlagzeuger ihre aktuelle Band. Da klingen ihre Lieder auch mal luftig-leicht und mediterran. Nix Schwermut und depressive Stimmung, sondern sogar poppiges Feeling und eine über die Bühne tänzelnde Mariza, wenn die Basstrommel mächtig losbumst.
 
Die richtig berührenden Momente sind bei ihren Konzerten inzwischen jedoch ein wenig rarer geworden. Aber sie sind  noch immer emotional und großartig. Etwa als die Sängerin sich vorne am Bühnenrand auf einen Stuhl hockt, ganz eng neben ihr zunächst einer, dann zwei ihrer Gitarreros. Da legt Mariza auch mal das Mikrofon zur Seite und füllt den Saal mit ihrer starken, einnehmenden Stimme mühelos akustisch. Und ein Liebeslied wie das so poetische „Há palavras que nos beijam“ geht direkt unter die Haut. Wenn Worte wirklich küssen könnten, dann tun sie das hier mit wahnsinnig viel Gefühl.   
 
Text & Fotos: Christoph Giese


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Ankündigung Ganna Gryniva 2021 in der Werkstatt in Gelsenkirchen-Buer
 
"Starke Stimme, starker Sound" - Matthias Wegner, Deutschlandfunk Kultur
 
In ihrer Solo-Performance mit Loops und Effekten vereint Ganna Gryniva die Authentizität und die Traditionen des Gesangs aus der Ukraine mit  zeitgenössischer Komposition. Alles beginnt mit einer einfachen Melodie, die in einen Raum voller unerwarteter Harmonien, Rhythmen und Atmosphären eingebetet wird: Live und ganz allein mit der Stimme.
 
Ganna Gryniva ist Sängerin, Komponistin und Pianistin aus Berlin. Auf der Suche nach ihrer eigenen Stimme in der zeitgenössischen Musik ist sie als Bandleaderin, Side-Woman, interdisziplinäre Performance- und freie Improvisations-Künstlerin aktiv. Aufgewachsen in der Ukraine und Deutschland sucht Ganna nach Wegen ihre verschiedenen kulturellen Wurzeln zum Ausdruck zu bringen.
 
Ganna tritt regelmäßig mit verschiedenen Ensembles und ihren eigenen Projekten auf, wie dem ukrainischen Ethno-Jazz Quintett GANNA. 2020 veröffentlichten Double Moon Records und JazzThing Next Generation das neue Album von GANNA "Dykyi Lys" ("Wild Fox" aus dem Ukrainischen), welches eine bemerkenswerte Anerkennung der internationalen Presse erhielt.

Zu den jüngsten Höhepunkten gehört ebenfalls die Zusammenarbeit mit Kurt Rosenwinkel und seinem Label Heartcore Records: Ganna arrangierte und sang das Lied „Spivanka“ zusammen mit den Jazzgrößen Louis Cole am Schlagzeug, Michael League am Bass, Pedro Martins und Daniel Santiago an den Gitarren.
 
Mit verschiedenen musikalischen Projekten tourt Ganna regelmäßig in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Estland, Litauen, Lettland, Ukraine, Ungarn, Polen, Dänemark und Griechenland.
 
Text: Christoph Giese


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Till Brönner & Band im Dortmunder Konzerthaus 2021
 
 
Till Brönner – Trompete & Flügelhorn
Mark Wyand – Saxofon & Querflöte
Bruno Müller – Gitarre
Christian von Kaphengst – Bass
Jan Miserre – Keyboards
Olaf Polziehn – Klavier
Felix Lehrmann – Schlagzeug
Jeff Cascaro – Gesang
 
Er sei ein notorischer Weihnachtsplatten-Sammler, gibt Till Brönner im Konzerthaus unumwunden zu. Um dann gleich mal das Publikum zu fragen wer denn schon sein aktuelles Weihnachtsalbum „Christmas“ (Sony) kenne. Einige Hände gehen hoch im vollbesetzten Saal. Auf dem Album interpretiert Brönner die „Stille Nacht“, wie man sie kennt: still, getragen. In Dortmund auf der Bühne schickt er den Weihnachtsklassiker auf Reise, bis nach Rio und spielt ihn mit seiner exquisiten, siebenköpfigen Band als temperamentvolle Samba, in der Drummer Felix Lehrmann  mittendrin minutenlang zeigen darf was für ein Rhythmus-Ass er doch ist.
 
Herrlich belebend und erfrischend ist das. So kann man Weihnachten durchaus mal in Töne setzen. Cool, lässig, gewitzt. „Let It Snow“ mutiert bei Deutschlands Vorzeige-Trompeter zum feinen Swing, das alte Frank Loesser-Stück „What Are You Doing New Year´s Eve“ zur Soulnummer mit dezenten Synthi-Streichern und von Brönner butterweich gespieltem Flügelhorn. Und „Winter Wonderland“ schaut beim Souljazz vorbei.
 
Mit Saxofonist Mark Wyand, Pianist Olaf Poziehn oder Bassist Christian von Kaphengst hat Brönner amtliche Namen der deutsche Jazzszene um sich geschart. Und für die Sahnehäubchen ist da ja auch noch der Bochumer Junge Jeff Cascaro mit seinem ausdrucksvollen Gesang dabei.
 
Und Till Brönner traut sich was. Etwa den Überweihnachtssong „Last Christmas“ von George Michael weitestgehend  instrumental zu servieren, ohne dabei zu sehr nach Fahrstuhl zu klingen. Oder ein Weihnachtslied auf Zuruf aus dem Publikum anzustimmen.
 
Es klingt aber nicht alles nach dem bevorstehenden Fest an diesem Abend. Sänger Jeff Cascaro darf mit dem „Stormy Monday Blues“ aus seinem Repertoire so richtig jazzbluesig losröhren. Und Lounge-Jazziges mit Biss und starken Improvisationen rundet einen zauberhaften Konzertabend in grandioser Soundqualität und starkem Lichtdesign ab.  
 
Weitere Termine:
 
20.12.: Wuppertal, Historische Stadthalle
22.12.: Düsseldorf, Tonhalle
 
Text & Fotos: Christoph Giese


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Michael Wollny im Dortmunder Konzerthaus 2021
 
Michael Wollny – Piano
 
Nur ein Klavier steht auf der Bühne. Aber mehr braucht Pianist Michael Wollny im Dortmunder Konzerthaus auch nicht um ein aufmerksam lauschendes Publikum mit seinem Spiel zu verzücken.
 
Seine erste Soloplatte dauert 46 Minuten und 38 Sekunden. Das ist genau jene Zeitdauer, die Apollo 11-Astronaut Michael Collins im Juli 1969 alleine im Raumschiff „Columbia“ und ohne Funk- und Sichtkontakt zur Erde war, während seine beiden Kollegen Buzz Aldrin und Neil Armstrong erstmals den Mond betraten. So einsam wie sich Collins damals gefühlt haben muss, erging es auch Michael Wollny bei den Aufnahmen zu Mondenkind (ACT) im Frühjahr 2020. Das erzählt Deutschlands  populärster Jazzpianist freimütig im Dortmunder Konzerthaus. Berlin war leer, die Straßen, das Hotel, in dem er wohnte. Und auch der Toningenieur im Aufnahmestudio saß ein paar Räume weiter.
 
Wollny ganz allein an einem Konzertflügel, ohne technischen Schnickschnack, sowohl beim Einspielen der Solo-CD als auch in Dortmund auf der Konzertbühne. Klaviermusik pur, ein konzentrierter Blick nach innen, manchmal nur kurze atmosphärische Miniaturen. Mal improvisiert, dann aus Vorlagen inspiriert. Von Musik der US-Singer/Songwriterin Tori Amos etwa. Oder von einem deutschen Volkslied. Oder vom zweiten Satz der „Sonatine Nr. 7“ von Rudolf Hindemith.
 
Daraus kreiert Michael Wollny Stimmungen, mischt Farben, gibt sich lyrisch, verträumt melancholisch, um auch mal kurzzeitig mächtige Klangberge aufzutürmen und sich zu regelrechten Tastengewittern verleiten zu lassen. Aber dann geht es gleich auch wieder in eine introvertierte Klangsuche.
 
Michael Wollny feiert auf den 88 schwarz-weißen Tasten eben in erster Linie die Einsamkeit, zwischen Schönheit und Düsternis. Um ganz am Ende, nach zwei Zugaben, sein zuvor gebannt lauschendes Publikum mit einem sanften Wiegenlied auf den Heimweg durch die dunkle, vielleicht auch einsame Nacht zu schicken.             
Text und Fotos: Christoph Giese


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We Jazz, Helsinki
 
Die achte Ausgabe von We Jazz bot wieder eine bunte Palette an aktuellem Jazz mit einem starken Fokus auf die lebendige finnische Jazzszene. Ungewöhnliche Spielorte und Künstler zum Entdecken, und das alles in einer Stadt, die es schon ohne Musik Wert ist zu besichtigen, waren die Zutaten eines gelungenen Festivals.    
 
Cool ist dieser Laden. Nicht so groß, aber jetzt auch nicht superklein. Erst muss man eine Treppe rauf, dann steht man mitten in der gemütlichen Bar. Links ist die Bühne und davor, abgetrennt von der Bar mit einer Wand, Platz für die, die wirklich das Konzert hören möchten, das bereits läuft. Es spielt das Ilmiliekki Quartet, ein illustrer Vierer, besetzt mit einigen der spannenden Namen einer jungen finnischen Jazzszene. Trompete etwa spielt Verneri Pohjola, und er spielt sie an diesem Abend immer ein wenig verhangen, mit melancholischem Unterton. Wie überhaupt der Sound dieser Band sich nur manchmal ein wenig erhebt und den Weg in die Helligkeit und Forschheit sucht. Den Bass bedient Antti Lötjönen, ebenfalls ein viel beschäftigter Akteur in der Woche des We Jazz-Festivals. Denn er sorgt in mehreren Bands für den Rhythmus, stellt einen Abend später sogar seine eigene Band vor, das Antti Lötjönen Quintet East. Eine Combo mit gleich drei Bläsern, zu denen gehört neben den beiden Saxofonisten Jonas Kullhammar und Jussi Kannaste natürlich auch Trompeter Verneri Pohjola. Dieses Quintett setzt sehr auf freie improvisatorische Kommunikationen untereinander, die auf Konzertdauer aber auch ein wenig ermüden können.
 
Um zu dem Spielort von Lötjönens Band und den anderen Acts des Abends zu kommen, muss man sich schon ein wenig in Helsinki auskennen. Die Spielorte von We Jazz liegen sowieso über die ganze Stadt verteilt; an jedem Abend geht es irgendwo anders hin. Das ist schon seit 2013, dem Jahr der ersten Festivalausgabe, Teil des Konzeptes. Die junge Saxofonistin Linda Fredriksson etwa präsentiert das Debütalbum Juniper (übrigens auf We Jazz Records) in einer Kunstgalerie im zweiten Stock eines Geschäftes mitten in der Einkaufsstraße im Zentrum Helsinkis. Bei den Auftritten in einer eher schmucklosen Halle namens Mittarikorjaamo muss man sich jedes Mal die Schuhe ausziehen. Warum weiß eigentlich niemand von den Besuchern. Und so mancher macht es auch nicht sehr gerne, rieselt draußen doch schon ein wenig Schnee. Da freut man sich doch, wenn die Füße warm sind und warm bleiben. Immerhin wärmen die Klänge des sehr melodischem zeitlos schönen Jazz des Quartetts der finnischen Pianistin Riitta Paakki, bei dem, man ahnt es vielleicht schon, wiederum Antti Lötjönen den Bass bedient.
 
Auch in einem Funk- und Technoclub, ein Stück weit entfernt vom Stadtzentrum Helsinkis, lassen Festivalmacher Matti Nives und seine engagierte Crew in diesem Jahr den Jazz erklingen. Zwei Hallen hat das Gebäude und man kann schön von der einen zur anderen wandern, wenn mal etwas nicht so gefällt. Beim Joona Toivanen Trio aber lohnt sich das Verweilen, denn der Pianist und seine beiden Mitstreiter an Bass und Schlagzeug kreieren aus einnehmenden Melodien und Momenten eine vielfarbige Klangpalette, die sie zwischendurch mit Soundbearbeitungen auf spannende Weise immer wieder erweitern und kolorieren. Das neue, brillante Album des Trios, Both Only, erscheint im Februar auf We Jazz Records. Das elektro-akustische Quartet Y-Otis des in Berlin lebenden, schwedischen Saxofonisten Otis Sandsjö dagegen bietet anschließend genau die Musik, die es zu schon mitternächtlicher Stunde braucht. Laute, moderne, immer wieder mal leicht modifizierte Klänge, mit hiphoppigen Grooves und flirrenden Saxofonlinien, perfekt zum Kopfnicken und Mitschwingen. Club-Jazz, der völlig zu Recht für viel Begeisterung beim Publikum sorgt.
 
Aber nicht nur Musik, mit einem erfreulich starken Fokus auf die heimische, die spannende finnische Jazzszene, war im reichhaltigen Festivalprogramm zu finden. In einer Talkrunde sprach etwa die künstlerische Leiterin des Jazzfestes Berlin, Nadin Deventer, über mutiges Programmieren. Und der amerikanische Schriftsteller Ashley Kahn beleuchtete John Coltranes Meisterwerk „A Love Supreme“ sehr detailreich und lieferte dabei faszinierende Einblicke in die Entstehung dieses Jahrhundertalbums der unvergesslichen Jazzlegende.
 
http://wejazz.fi/2020/en/
 
Text: Christoph Giese; Fotos: We Jazz


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Humorvoll und mit akrobatischen Höchstleistungen
 
Die neue Show Circus im Essener GOP Varieté-Theater
 
In einem Zirkus wird natürlich Humor großgeschrieben. Und entsprechend gut gelaunt und humorvoll präsentiert sich das Ensemble der neuen GOP-Show Circus. Was viel mit Clown Eduardissimo zu tun hat. Der gebürtige Russe spricht am ganzen Abend zwar kein einziges Wort, aber das muss er auch nicht. Seine Gesten, seine Bewegungen, sie sagen alles. Man schmunzelt, man lächelt und freut sich zugleich auf den nächsten Programmpunkt der Show.
 
Denn natürlich steht auch bei Circus die Artistik wieder im Mittelpunkt. Und die Mitglieder des Theaters „Bingo“ aus Kiew haben da einiges zu bieten. Etwa Anton Shcherbyna mit seiner Diabolo-Jonglage. Auch wenn ein zugegebenermaßen sauschwer und fast unmöglich scheinendes Element am Ende seiner Aufführung gleich zwei Mal hintereinander nicht funktioniert und er es kein drittes Mal mehr versucht. Aber das ist überhaupt nicht schlimm, weil einfach menschlich. Wer das ganz Besondere bieten will, der darf auch mal an einem Abend daran scheitern.
 
Etwas ganz Besonderes zeigen auch Tatiana Yudina und Maryna Tkachenko mit ihrer waghalsigen Luftschlaufen-Nummer. Denn das aparte Damen-Duo hängt nur an zwei schwarzen Luftschlaufen mehrere Meter über dem Bühnenboden und begeistert mit Überkopf-Spagat und anderen tollkühnen und ungewöhnlichen Figuren.
 
Tollkühnes bietet das Männer-Duo Vitalii Neponiashchi und Dmytro Naumenko zwar am Boden, aber ihre Partnerakrobatik ist mit schwersten Übungen bestückt nicht minder spektakulär. Und noch ein Duo ist ein echter Hingucker: Tatiana & Alexey Bitkine sorgen für Staunen bei ihrer Duo Pole-Nummer. Denn mehr als einmal sausen sie von ganz oben kopfüber die vertikale Stange herunter um kurz vor dem Boden wie von Geisterhand gebremst zu stoppen.
 
Flotte Tanzmomente, eine Hula Hoop-Nummer in der Höhe, Vertikaltuch-Akrobatik oder die unglaubliche Kontorsions-Spezialistin Anna Pieies, die nur biegsame Gummi-Knochen in ihrem Körper zu haben scheint, sorgen für allerbeste Unterhaltung, die Clown Eduardissimo immer wieder mit seinen kleinen Auftritten zwischendurch auf seine ganz eigene Art kommentiert.
 
Circus läuft noch bis zum 9. Januar 2022 im Essener GOP-Varieté-Theater. Und passend zu einer Show in der Vor- und Nach-Weihnachtszeit ist dieses Mal auch das als Option erhältliche, begleitende Menü im Varieté-Saal ausgewählt. Denn dort wartet als Hauptgang eine köstlich zarte und geschmackvolle Barbarie Entenbrust vom Grill auf den Gast. Trüffel-Tagliatelle ist als vegetarische Alternative ebenso erhältlich.
 
Ticket-Hotline: 0201/2479393; online unter www.variete.de.
http://www.variete.de/essen
 
Text: Christoph Giese; Foto: GOP


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„Trans4JAZZ 2021“  in Ravensburg
 
Ausgerechnet ihr Foto ist auf allen in der Stadt aufgehängten Plakaten und auch im Programmflyer vorne drauf. Eigentlich ja eine gute Wahl, denn diese Frau ist nicht nur eine der bekanntesten Jazzsängerinnen weltweit, sondern auch eine der exaltiertesten. Was man natürlich auch auf ihren Fotos sieht. Dee Dee Bridgewater ist eben ein echter Hingucker. Aber die Amerikanerin, die das längst ausverkaufte Auftaktkonzert des diesjährigen Trans4JAZZ-Festivals bestreiten sollte, sagte kurzerhand wegen Corona ihre ganze Europatour ab. So saß das Ravensburger Publikum eben erst einen Tag später als geplant erstmals im wunderschönen und ausverkauften Konzerthaus, um einer europäischen Supergroup zu lauschen, „Rymden“ – die Band der beiden Schweden Magnus Öström am Schlagzeug und Dan Berglund am Kontrabass sowie des norwegischen Tastenmannes und Soundtüftlers Bugge Wesseltoft. Seit ein paar Jahren nun spielt man im Trio zusammen und der gemeinsame Sound entwickelt sich immer mehr. Er bietet nach wie vor viel Raum für die eigene Individualität, aber wirkt oft herrlich dicht zusammen wenn die drei Skandinavier wunderbar zwischen Jazz, Fusion und Elektronik musizieren, sich zwischen melancholischen, poetischen, melodieverliebten Momenten und elektronischen Statements und mächtigen Beats und Rhythmen die Bälle gegenseitig zuwerfen.
 
José James ist auch so ein Chamäleon, das seine musikalischen Farben während eines Konzertes zu variieren weiß. Da steht der Sänger auf der Bühne des Ravensburger Konzerthauses und singt ein süßliches, balladeskes Duett mit Gastsängerin Taali und man denkt: ganz okay, aber auch nicht wirklich mehr. Doch dann zeigt der Amerikaner was er wirklich gut kann. Lieder aus dem Repertoire von Bill Withers singen etwa. Als Songwriter hat er es auch drauf („Trouble“). Aber der stärkste Moment des Konzertes ist kurz vor seinem Ende, in einer Langversion des Liedes „Park Bench People“, das auf Freddie Hubbard´s Klassiker „Red Clay“ basiert. Da gibt seine Klasse-Band um den fantastischen Drummer Richard Spaven noch einmal mächtig Gas und José James scattet und rappt zu den treibenden Beats, das man vor Verzückung lächelt.  
 
Viel ruhiger und entspannter musiziert da bei der Sonntagsmatinee das Duo des ungarischen Gitarristen Ferenc Snétberger und des dänischen Bassisten Jesper Bodilsen. Eigentlich sollte der Schwede Anders Jormin den Bass bedienen, aber der fiel familiär bedingt kurzfristig aus. So kam es in der Linse in Weingarten zur Premiere dieser beiden Musiker auf einer Bühne, die mit luftigen Melodien und wunderschönen Zwiegesprächen feinsten, virtuosen Jazz zelebrierten. Den stürmischsten Applaus holte sich in diesem Jahr das „Herbert Pixner Projekt“ ab, das für den Schlussakkord des Festivals sorgte. Und wie. Mit seiner so vielschichtigen Instrumentalmusik aus den Alpen, die mal bluesig, mal nach Flamenco, Rock oder Gypsy schielt und dabei immer wieder volkstümlich klingt, packen der gebürtige Südtiroler Akkordeonist und Multiinstrumentalist Herbert Pixner und seine Band das Publikum immer wieder.
 
Und wann hat man Simon & Garfunkels „The Sound Of Silence“ derart spannend bearbeitet gehört wie in der Version von „Ameli in the woods“, der Band um die aktuell in Berlin lebende Stuttgarter Sängerin und Keyboarderin Franziska Ameli Schuster, Landesjazzpreisträgerin 2020 von Baden-Württemberg. Abgesehen von diesem Coversong gibt es bei ihrem Konzert in der atmosphärischen Zehntscheuer mit ihrem Quartett, in der Bruder Sebastian Bass, Fender Rhodes und ebenfalls Keyboards bedient, nur eigenes Material zu hören. Songs, die sich einer engen Kategorisierung geschickt entziehen und dabei eine poppige Attitüde und elektronische Bearbeitungen mit erfrischendem, modernem Jazz paaren. Und von der charismatischen Ausstrahlung von Franziska Ameli Schuster geprägt sind, auch wenn ihre drei Mitstreiter ebenfalls mehr als zu gefallen wissen. Dieses junge Quartett, das im kommenden Jahr sein Debütalbum herausbringt, sollte man sich merken. Eine echte Entdeckung in Ravensburg.
 
www.jazztime-ravensburg.de
 
Text : Christoph Giese; Fotos: Hans Bürkle


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OSLO WORLD 2021
Oslo, Norwegen
 
Sie schreit. Vielleicht ein wenig zu viel an diesem Abend. Und sie ist überwältigt. Vom begeisterten Publikum, das dicht gedrängt vor der Bühne des Parkteatret im hippen Osloer Stadtteil Grünerløkka steht und sie abfeiert. So viel Liebe vom norwegischen Publikum, da möchte sie glatt in der Stadt bleiben, ruft sie von der Bühne herunter. María José Llergo ist ein neuer Star des Flamenco. Die Spanierin singt ihn in Oslo durchaus auch recht puristisch, nur von einer akustischen Gitarre begleitet. Aber dann auch modern und erweitert, von Synthesizern und elektronischen Sounds untermalt.
 
Zwei Abende später, in der Kulturkirche Jakob. Noch so ein angesagtes Duo spielt beim diesjährigen „Oslo World“ – Lina­_Raül Refree. Die portugiesische Sängerin und der spanische Tastenmann, Produzent und Soundtüftler sind gerade das gehypte Ding in Sachen modernisiertem Fado. Klassiker aus dem Repertoire der großen, verstorbenen Fadoqueen Amália Rodrigues erfahren hier eine moderne Neubetrachtung. Keine Gitarren sind zu hören, dafür Klavier, Synthesizer, dumpfe Bassbeats aus dem Computer. Nebelschwaden auf der Bühne, das zunächst im Halbdunkel gehaltene Gesicht der Sängerin – hier wird traditioneller Fado atmosphärisch inszeniert ins 21. Jahrhundert transportiert. Lina ist eine eindringliche, gute Fadista und ihr Partner ein innovativer Klanggestalter. Diese Kombination ist verführerisch, weil so anders. Aber sie wiederholt sich nach einer Weile dann doch gerne auch wieder. Dennoch, dass Europa über dieses Trio spricht, hat durchaus seine Berechtigung. Und wie María José Llergo passt auch dieses Duo perfekt zum diesjährigen Festivalmotto „Rebels“.
 
Seit 2006 ist Alexandra Archetti Stølen verantwortlich für das 1994 noch unter anderem Namen ins Leben gerufene „Oslo World“. Die Festivaldirektorin ist eine echte Powerfrau. Fast jedes Konzert sagt sie persönlich an, was alleine schon schwierig ist, findet vieles doch fast zeitgleich an mehreren Spielorten in der Stadt statt. Und wie sie die einzelnen Künstler ansagt, da spürt man die Hingabe und die Liebe zu der Musik. „Oslo World“ ist ein Venue-Festival, das heißt dass etablierte Spielstätten in der Stadt genutzt werden. Vom großen Konzertsaal über das mittelgroße Theater bis hin zu kleinen Clubs und versteckt liegenden, gemütlichen Bars und Cafés.
 
Das Hærverk ist so ein kleiner, intimer Ort, an dem man erst einmal vorbeiläuft, bis man darauf kommt ihn in einem größeren Gebäude zu suchen und zu finden. Hier spielten einige spannende Acts. Etwa das Duo „Bedouin Burger“. Der libanesische Musiker und Produzent Zeid Hamdan und die syrische Sängerin Lynn Adib begeisterten mit ihrem mal akustisch gehaltenen, mal mit Beats und Elektronik aufgepeppten Arab Pop, der mal tanzbar, mal poetisch melancholisch ein Wellenbad der Gefühle beim Zuhören erzeugte. Auch „AySay“ aus Dänemark, mit der kurdisch-dänischen Sängerin Luna Ersahin, überzeugten mit ihrem Mix aus westlichen und orientalischen Klängen, aus akustischen und elektronischen Klängen und Beats, die sie manchmal gar wie eine groovende Rockband klingen ließen. Einige kleine Läden wie das Hærverk waren in diesem Jahr das erste Mal Spielort beim Festival. „Oslo World“ möchte damit auch Spielstätten unterstützen, die es in der Pandemie schwer hatten und die es generell zu erhalten gilt. Vor allem weil auch in Oslo ausländische Investoren vieles aufkaufen und sicher meistens nicht zur Erhaltung bestehender Strukturen.  
 
Mit der Band „AYOM“, um die charismatische brasilianische Sängerin und Perkussionistin Jabu Morales, und ihrer transatlantischen, lusophonen Weltmusik hätte die diesjährige Festivalausgabe keinen besseren Schlusspunkt finden können. Das Sextett verkörpert mit Musikern aus Griechenland, Italien, Angola und eben Brasilien Multikulturalität im Line-Up wie auch in der Musik. Die ist fast immer tanzbar und sorgte beim völlig begeisterten Publikum für regelrechte Beifallsstürme am Ende.
 
„Oslo World“ ist aber mehr als nur Musik. Seminare, Workshops oder auch eine Gesprächsrunde mit einem syrischen Künstler ergänzen das üppige Programm. Das Festival hat ein jederzeit spürbares politisches Bewusstsein und stellt auch unbequeme Fragen. Seinen politischen Weitblick zeigt das Festival auch in seiner Partnerschaft und Unterstützung des 2013 im Libanon entstandenen „Beirut & Beyond International Music Festival“, das aufgrund der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Situation im Libanon derzeit allerdings eine schwierige Phase zu bewältigen hat.     
 
http://www.osloworld.no/en/
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Oslo World


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Vilnius Jazz 2021
Vilnius, Litauen
 
Die Portugiesen haben keine Mühen gescheut um dabei sein zu können, beim Festival Vilnius Jazz. Bis nach Warschau sind sie von Lissabon geflogen um dann weiter mit dem Bus in die litauische Hauptstadt zu reisen. Das dauert etliche Stunden. Aber bei einer 18-köpfigen Reisegruppe muss man schon mal schauen was finanziell möglich ist, um solch einen Trip zu realisieren. Das „Lisbon Underground Music Ensemble“, kurz „L.U.M.E.“, jedenfalls hat den Reisestress auf sich genommen. Und er hat sich für alle Beteiligten gelohnt. Für die Musiker der Bigband, die das erste Mal in Litauen waren. Und für die Zuhörer, die einen herrlich schrägen, mit ironisierendem Humor gewürzten, improvisatorisch-kompositorischen Musiktrip durch die Jazzgeschichte des 20. Jahrhunderts zu hören bekamen.
 
Ganz groß geschrieben wird die Improvisation bei den beiden Japanern Sainkho Namtchylak und Kazuhisa Uchihashi. Die Sängerin und Vokalkünstlerin und der Gitarrist, Daxophon-Spieler und Soundtüftler entführten im Duo auf der Bühne des altehrwürdigen Russischen Dramatheaters in Vilnius das gebannte Publikum in immer wieder überraschende Klangwelten. Dass sich darin dann plötzlich auch bluesige Passagen herausschälen und wie dieses kongeniale Duo mit Klängen zu spielen weiß – man muss sich darauf einlassen, entdeckt dann aber die Faszination und Schönheit ihres Tuns.
 
Drei Abende lang bot das Festival an einem zweiten, hippen Spielort am späten Abend, immer nach den Hauptkonzerten im Theater, jungen litauischen Bands die Möglichkeit sich vor erfreulich viel und jungem Publikum zu präsentieren. Mit Kornelijus Pukinskis stellte sich da zum Beispiel ein hitziger, wilder Saxofonist vor. Oder mit „BoB“ ein ideenreiches Quartett, das auch mittels Elektronik und Sounds ihr Set langsam aufbaute, um dann den Zuhörer soghaft in die immer lauter und dynamischer werdende Klangwelt hineinzuziehen. Auch im Theater durften sich am letzten Festivaltag junge litauische Bands einer Jury aus Experten und Publikum, letzteres durfte ebenfalls abstimmen, vorstellen – beim Wettbewerb „Vilnius Jazz Young Power“.  
 
Festivaldirektor Antanas Gustys hatte in diesem Jahr die gute Idee Dalius Naujokaitis einen ganzen Abend im Russischen Dramatheater zur Verfügung zu stellen. Der litauische Schlagzeuger lebt schon seit einem Vierteljahrhundert in New York und ist dort bestens vernetzt in der Avantgarde- und Freejazz-Szene. In Europa ist er mit wenigen Ausnahmen, und natürlich Auftritten in seiner Heimat Litauen, eher wenig zu sehen. So war der Abend mit ihm eine echte Entdeckung – und ein wahres Erlebnis. Schon mit dem Quartett „Suo Suo“, mit E-Gitarristin Ava Mendoza, E-Bassist Simon Jermyn und dem Saxofonisten Jonathon Haffner, begeisterte Naujokaitis mit seinem teils explosivem, und vor allem immer sehr ideenreichen Schlagzeugspiel in rockig-freien, vertrackten Klangbildern. Doch das war nur das Vorspiel zu einem gigantischen Spektakel. Das wiederum begann in ebenfalls noch kleinerer Formation als Hommage an den verstorbenen litauisch-amerikanischen Filmregisseur und Autor Jonas Mekas. Mit exaltiertem italienischen Rezitator und Chorstimmen, summenden und flötenähnlichen Sounds aus dem Dunkel der Theaterbalkone. Doch irgendwann standen sie dann alle auf der Bühne. Der vielköpfige Chor, jede Menge Bläser, ein halbes Dutzend Schlagwerker und weitere Musiker, über 50 insgesamt. Immer dirigiert von Dalius Naujokaitis oder Jonathon Haffner. Man kann die Musik gar nicht so genau in Worte fassen, das musste man einfach gesehen haben. Wie sich Improvisation und streng durchkomponierte Passagen, nie eingeengt in stilistische Grenzen, in so einem riesigen Klangkörper miteinander so gut verbanden, das war großartig anzuschauen und anzuhören. Selbst die von einer Chorsängerin Stück für Stück immer lautstärker ausgerufene Verfassung der Freien Republik Užupis, einem Szeneviertel am Rand der Altstadt von Vilnius, war am Ende in diesen memorablen Auftritt integriert.
 
Große Formationen waren in diesem Jahr an jedem der vier Festivaltage zu hören. So etwa auch die „Large Unit“ des norwegischen Schlagzeugers Paal Nilssen-Love, die ekstatische Momente mit ausgeklügelten Strukturen kombinierte, bei denen jeweils nur Teile der bei Instrumenten wie Bass oder Schlagwerk gleich mal zumindest doppelt besetzten Formation musizierten. Wilde Freiheiten innerhalb komponierter Eckpfeiler boten ein interessantes Hörvergnügen. Aber auch direkt sozusagen vor der Haustür findet sich so eine spannende Großformation. Das litauische „Improdimensija Orchestra“, entstanden durch die Initiative zweier Meister der improvisierten Musik Litauens, Liudas Mockūnas und Arnas Mikalkėnas, zeigte die ganze Bandbreite der improvisierten Musik. Ein würdiger Schlussakkord unter die 34. Ausgabe des ältesten jährlichen Jazzfestivals in Vilnius.
 
http://www.vilniusjazz.lt/
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Vygintas Skaraitis


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FAST TRACKS
Volume 2
 
Volume 2 von FAST TRACKS bietet wieder einen kleinen Überblick über neue CD-Veröffentlichungen im Bereich Jazz und Weltmusik.
 
Als erstes gibt es Musik einer Legende zu hören. Eine illustre Truppe aus dem New Orleans-Umfeld, dem Geburtsort des legendären Trompeters und Sängers Louis Armstrong, und weitere klangvolle Namen des Jazz firmieren auf A Gift To Pops
 
(Verve) unter dem Namen The Wonderful World Of Louis Armstrong All Stars und zelebrieren ihn. Los geht es mit einer bislang unbekannten Originalaufnahme von Armstrong. Es folgen Stücke aus seinem Repertoire und wie sie heute vielleicht klingen würde, weilte Armstrong noch unter uns. Das Ganze ist ein vergnüglicher, swingender Musiktrip. Mitwirkende wie Wynton Marsalis, Nicholas Payton oder Wycliffe Gordon garantieren dabei Originalität, Gäste wie Rapper Common bringen zusätzlich ein wenig Hipness mit rein.   
 
Noch eine Legende:  A Love Supreme: Live In Seattle (Impulse!) wurde am 2. Oktober 1965 im Penthouse Club in Seattle live mitgeschnitten und nimmt den Zuhörer mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Auch, weil die Aufnahme nicht unbedingt Studioqualität hat, was sie noch authentischer wirken lässt. Vor allem zeigt sie die Spiritualität und große Improvisationskraft von Jazzikone John Coltrane und seinem legendären Quartett, das hier in erweiterter Besetzung Coltranes berühmte vierteilige Suite in einer wilden, ziemlich enthemmten Version spielt. Neben McCoy Tyner, Jimmy Garrison und Elvin John sind hier auch drei weitere Musiker, darunter Pharoah Sanders, bei diesem irren Musiktrip mit dabei.
 
Nomfusi kommt aus Südafrika und mischt auf ihrem neuen, bereits vierten Album The Red Stop (Delicious Tunes) Township Music mit Soul und Afropop. Die stimmgewaltige Sängerin und Songschreiberin stammt selber aus einem Township, lebt inzwischen in Johannesburg und engagiert sich durch Aufklärungsarbeit an Schulen für gefährdete Kinder in Soweto, Swasiland und Malawi. Musikalisch bietet ihr Album mit Maskandi-Gitarren, groovigen Township-Rhythmen, mal tanzbarem, mal her loungigem Afropop einen bunten, immer positive Vibes ausstrahlenden Musikmix.
 
Ihr neues Album Palabras Urgentes (Real World Records) markiert bereits das 50. Jahr der Karriere von Susana Baca, Die afroperuanische Sängerin zählt zu den bedeutenden Stimmen Südamerikas und war sogar kurzzeitig auch als Kultusministerin Perus aktiv. Hier zeigt sie in zehn starken Songs einmal mehr ihre ganze Klasse. Ihr eindringlicher Gesang legt sich über traditionell klingende Songs, die durch die Mitarbeit von Michael League (Snarky Puppy, Bokanté) aber einen durchaus zeitgenössischen Sound verpasst bekommen.
 
Im letzten Jahr im Mai schon veröffentlichte die Band Aksak Maboul das Doppelalbum Figures (Cramned Discs). Nun kommen gleich zwei Alben der Belgier mit Remixen, Coverversionen und neuen Versionen heraus. Redrawn Figures 1 und Redrawn Figures 2 (beide Cramned Discs) erscheinen nur digital und auf Vinyl, letztere Variante auf jeweils 500 Exemplare limitiert. Künstler wie The Notwist, Spooky J, Carl Stone, Felix Kubin, aber auch Aksak Maboul selbst machen sich hier an spannende Bearbeitungen der Songs in einem schillernden Umfeld aus Elektronik, Avantgarde und Progrock.
 
Guerilla Jazz (JazzHausMusik) nennen Posaunist Detlef Landeck, Tenorsaxofonist Sven Grau und Drummer Joe Bonica als Trio Landeck I Grau I Bonica das, was sie hier auf acht Stücken zelebrieren. Der ungemein groovende, leicht hibbelige Auftaktsong „Fetter Engel“ gibt die Richtung des gesamten Albums vor: Schlagzeug-Grooves und energiegeladene Bläserströme erzeugen expressive, vitale, mitreißende Sounds, manchmal auch mit einem Augenzwinkern versehen.     
Und das polnisch-japanisch-schweizerische Gesangs-Gitarren-Duo Yumi Ito & Szymon Mika erschafft auf Ekual (Helvetia Records) wunderschöne, das Herz berührende, zeitlose Songs, die sich einer eindeutigen, festen Stilisierung wundersam entziehen, dafür aber viel Gefühl und Wärme verströmen. Auch, weil dieses Album mit großer klanglichen Transparenz aufgenommen wurde.      
 
Text: Christoph Giese


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Vorschau WOMEX Porto
 
Das weltweit größte internationale Musikmeeting kann in diesem Jahr glücklicherweise wieder live stattfinden. Im letzten Herbst sollte die WOMEX eigentlich mit Publikum in Budapest sein, wurde wegen Corona aber letztendlich lediglich zu einem virtuellen Event. In diesem Jahr ist die „Worldwide Music Expo“ das erste Mal in Portugal zu Gast, wo sie vom 27. bis zum 31. Oktober in der Hafenstadt Porto über die Bühnen geht.
 
Und jetzt steht auch das Showcase-Festival, das in die Musikmesse integriert ist. Ein buntes Programm mit Künstlern aus vielen Ländern erwartet den Besucher, mit Musik von den Kapverden (Neuza oder Miroca Paris), Kuba (Yarima Blanco oder Cimafunk), Brasilien (Lucas Santtana, Mateus Aleluia oder Rincon Sapiencia) und natürlich auch Portugal (Vitorino oder Rastronaut). Etliche länderübergreifende Projekte wie die Band „Ayom“ oder das Duo „Lina_Raül Refree“ sind ebenfalls vor Ort. Das komplette Showcase-Programm gibt es hier zu sehen:
 
http://www.womex.com/programme/showcases
 
Seit 1994 findet die Messe unter dem Namen WOMEX statt. Begonnen hatte alles 1991 in der deutschen Hauptstadt, als Teil der Berlin Independence Days. Daraus ist inzwischen längst was richtig Großes entstanden. Zur letzten Vor-Corona-Ausgabe im finnischen Tampere kamen 2019 neben 2.500 Menschen aus dem Musikbusiness auch 260 Künstler und 110 Sprecher, die bei der Konferenz über diverse Musik-Themen sprachen.
 
Auch ein Film-Programm mit Dokumentationen, die Musik, Bewegungen und Geschichten aus aller Welt zeigen, gehört mit zum Programm der WOMEX in Porto.
 
Hier geht es zum Konferenzprogramm:
   
Alle Termine, weitere Infos und Tickets unter: http://www.womex.com
 
Text: Christoph Giese; Fotos: WOMEX


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JugendJazzOrchester NRW im Maschinenhaus
 
der Zeche Carl in Essen
 
Gabriel Pérez – künstlerische Leitung
Stefan Pfeifer-Galilea – künstlerische Leitung
Stephan Schulze – künstlerische Leitung
 
JugendJazzOrchester NRW
 
Das Bild vor dem Konzert spricht Bände: Da sitzen etliche der aktuellen Mitglieder des bereits 1975 gegründeten JugendJazzOrchester Nordrhein-Westfalen (JJO NRW) schon in ihrer feinen, schwarzen Konzertkleidung jeweils mit einem Pizzakarton auf den Knien vor dem Maschinenhaus der Zeche Carl und stärken sich für den Auftritt.       
 
Endlich wieder etwas gemeinsam tun. Zusammen Musik machen. Oder vorher eben zusammen Pizza essen. Das haben sie alle schmerzlich vermisst,  während Corona dafür aber auch neue Erfahrungen machen dürfen.
 
So wie bei den Aufnahmen zur neuen CD mit dem treffenden Titel „At Home Together“. Denn daheim ist sie entstanden. Alle Beteiligten spielten ihre Parts in den eigenen vier Wänden ein. Erst im Tonstudio wurde alles zusammengemischt. Eine Herausforderung, denn der eine oder die andere brauchten zuvor erst einmal eine Einweisung in digitaler Aufnahmetechnik.
 
Das Resultat aber kann sich mehr als hören lassen. Auch live, beim CD-Releasekonzert im Maschinenhaus. Auch wenn nicht jeder Moment schon exakt sitzt. Aber kein Wunder wenn man länger nicht zusammen gearbeitet hat.
 
Tonträger und das Konzert halten eine große Bandbreite bereit. Von souljazzigen, George Benson-mäßigen Single Note-Gitarrenläufen über beseelte Jazz- und Bossa Nova-Balladen bis hin zu einer knackigen, groovig-funkigen Nummer der US-Rocker Little Feat.    
 
Alle drei künstlerischen Leiter des JJO NRW, die auch alle in Essen vor Ort waren und das Jazzorchester jeweils leiteten, haben zudem spannende Arrangements zu je einer Beethoven-Komposition geschrieben. Für eine musikalische Reise von psychedelischen 70er Jahre Sounds bis zu flottem Swing.
 
Und der jazzende NRW-Nachwuchs zeigt in allen Momenten dieser Arrangements und überhaupt des ganzen Abends, was er alles so drauf hat. Und das ist so einiges.     
 
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Carla Köllner/JJO NRW


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European Jazz Conference 2021
Tallinn, Estland
 
Gibt es eine europäische Musikhauptstadt? Von Ende August und hinein bis in den Oktober geht der Titel auf jeden Fall ins kleine Estland, das sich in diesem Zeitraum musikalisch ganz groß präsentiert.
 
Zunächst einmal mit dem größten Jazzfestival des Baltikums, dem „Jazzkaar“ (wir berichteten: https://www.virgin-jazz-face.de/christoph-giese-ii.html). Dann fand zum zweiten Mal die jährliche „European Jazz Conference“ des „Europe Jazz Network“ (EJN) in Estlands Hauptstadt statt – und zum guten Schluss gibt es am kommenden Wochenende auch noch die ebenfalls jährliche „Tallinn Music Week“.
 
Weit über 200 Delegierte aus vielen Sparten des Jazz reisten trotz Corona-Pandemie persönlich nach Tallinn zur Jahreskonferenz. Aber die Organisatoren, darunter auch das Festival „Jazzkaar“ und das estnische Kulturministerium, hatten alles getan, um ein möglichst sicheres Wochenende zu garantieren. Natürlich fühlt es sich für den aus Deutschland angereisten Berichterstatter ein wenig seltsam an, weil seit langer Zeit nun einfach total ungewohnt, dass man zu später Stunde in einem engen Club dicht beieinander stehen kann und darf, ohne Maskenzwang, und tanzen kann zur mitreißenden Liveshow der estnischen Funkband „Lexsoul Dancemachine“. Oder zuvor zumindest mitwippen zu den erstklassigen Soul- und R&B-Klängen der estnischen Sängerin Rita Ray.
 
Wie baut man sich ein Publikum wieder auf nach der Corona-Pandemie? Welche neuen Formate und Wege des Musikhörens gibt es? Und was ist zu beachten beim Post-Covid-Programmieren von Konzerten? Über diese und weitere Themen wurde bei der Konferenz gesprochen und diskutiert. Und bei gemeinsamen Mittag- und Abendessen sicher auch diese Themen vertieft und andere angesprochen.
 
Und natürlich gab es auch Musik zu hören. In den Showcases stellte sich vor allem die heimische Jazzszene vor. Der in Deutschland aufgewachsene, estnische Pianist Kristjan Randalu etwa zeigte in einem Solokonzert und als Mitglied des Trios „Peedu Kaas Momentum“ warum er zu den spannendsten Tastendrückern Europas zu zählen ist. Spannend und vielseitig ist auch der estnische Gitarrist Jaak Sooäär. Im Trio mit dem armenisch-estnischen Bassisten Ara Yaralyan und dem finnischen Drummer Markku Ounaskari finden Jazzrockiges, armenische und nordische Folklore und europäische Klassik wunderbar zusammen. Und im „Tormis Quartet“ interpretiert Sooäär zusammen mit den Sängerinnen Kadri Voorand und Liisi Koikson und Gitarrenkollege Paul Daniel die Musik des großen, 2017 verstorbenen estnischen Chormusik-Komponisten Veljo Tormis wagemutig, frisch und frech in einem Jazzkontext – fein untermalt durch Visuals, die wiederum mit informativen Fakten zu Estland mit Texteinblendungen interessant angereichert wurden.
 
Einige estnische Künstler haben sich längst auch außerhalb ihres Landes einen klangvollen Namen gemacht. Wie etwa die Sängerin und Musikerin Kadri Voorand, die gleich mehrere Male im Rahmen der Konferenz auftrat. Auch mit ihrem Duo, das sie mit ihrem Landsmann, dem Bassisten Mikhel Mälgand, betreibt. So mancher vor Ort wird sich dieses Zweiergespann gemerkt haben. Aber nicht nur gute Musik bleibt hängen von der diesjährigen „European Jazz Conference“, sondern auch die vorbildliche Organisation der gesamten Veranstaltung. In Corona-Zeiten so ein Event zu planen war sicher alles andere als einfach im Vorfeld. Es ist den Machern in Estland aber eindrucksvoll gelungen. Dass es zudem Tage mit Wohlfühlfaktor wurden – auch die Kirsche auf der Torte fehlte in Tallinn nicht.    
 
Die nächste „European Jazz Conference“ des EJN findet im kommenden September übrigens in Bulgariens Hauptstadt Sofia statt. EJN-Mitglied Mila Georgieva von der mitorganisierenden „A to Z Foundation“ stellte in Tallinn ihre Heimatstadt schon einmal vor und machte direkt Lust auf die Veranstaltung im Jahre 2022.
 
http://www.europejazz.net/

Text: Christoph Giese;  Fotos: Rene Jakobson


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Viel Musik und tolle Artistik
 
Die neue Show WunderBAR im Essener GOP Varieté-Theater
 
In dieser Bar geht es munter zu. Und auch mal sehr rhythmisch. Dann wenn druckvolle Dancebeats wummern. Aber auch jazzig kann es in dieser Bar klingen, oder nach einem Hauch von Schlager. Oder betörender Weltmusik. Ja, die musikalische Untermalung spielt eine tragende Rolle in der WunderBAR. So heißt die neue Show im Essener GOP Varieté-Theater, die jetzt Premiere feierte und bis zum 7. November in Essen zu erleben sein wird.
 
Und die Show lohnt sich. Für alle diejenigen, die Musik mögen. Denn durch das knapp anderthalbstündige Programm führt mit Ruth von Chelius als Barchefin eine charmante Sängerin, die klasse singen kann und auch den einen oder anderen kessen Spruch auf den Lippen hat.
 
An einen netten Drink auf den Lippen kann das Duo Fabulous bei seinen Ikarischen Spielen nicht einmal denken. Wie der größere der beiden den kleineren auf dem Rücken liegend mit seinen Füßen durch die Luft wirbelt – dazu passt kein nettes Getränk nebenbei.
 
Der Wahlberliner Andalousi braucht nur einen bequemen Couchsessel. Auf den lümmelt er sich zunächst um dann zu zeigen wie gelenkig er doch ist - und wie er den Sessel als Ausgangs- und Mittelpunkt seiner turnerischen Übungen zu verwenden vermag. Alles sieht bei ihm so leicht aus, wenn er die Schwerkraft zu ignorieren scheint. Aber natürlich geht das alles nur mit einer außergewöhnlichen Körperbeherrschung.
 
Großartig und recht ungewöhnlich wie Annika Hemmerling ihre sehr ästhetische Trapeznummer beginnt. Sie wackelt als lustiger kleiner Gnom auf die Bühne, den Körper eingeklappt und das Hinterteil als Gesicht aus dem bis oben zugeknöpften langen Mantel schauend. Herrlich komisch und sehr akrobatisch.
 
Zwischendurch taucht dann immer wieder Ava auf, eine exzentrische Dame in Grün, und gibt kurze, knappe Kommentare mit französischem Akzent von sich. So richtig überzeugend ist diese Ava aber irgendwie nicht.
 
Das genaue Gegenteil trifft dagegen auf TJ Wheels zu, den absoluten Knaller der Show. Zunächst als Barmann in der „WunderBAR“ eher im Hintergrund, dreht er später auf mit seiner wahnsinnigen Rollschuh-Nummer. Auf einer kleinen Halfpipe hin und her rollend, jongliert er dabei auch noch mit Keulen oder kleinen Reifen. Beide Bewegungsabläufe parallel hinzubekommen und zu koordinieren – dafür bekam der sympathische Künstler viel Beifall vom begeisterten Premierenpublikum.
 
Ticket-Hotline: 0201/2479393; online unter www.variete.de.
 
https://www.variete.de/essen
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Simon Bierwald/GOP


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WDR Big Band mit „And Still We Sing“ in der Essener Philharmonie
 
Fay Claassen – Gesang
David Linx – Gesang
Magnus Lindgren – Flöte & musikalische Leitung
WDR Big Band
 
Sie strahlt schon beim Betreten der Bühne. Man kann förmlich spüren wie glücklich Fay Claassen ist wieder auftreten zu können. Und dann auch noch zusammen mit ihrem Bruder im Geiste David Linx, mit dem die Niederländerin schon seit zwei Jahrzehnten immer wieder gemeinsam singt. Nicht zu vergessen natürlich die WDR Big Band in ihrem Rücken, in der Ehemann Paul Heller mitspielt. Dass der Alfried Krupp Saal am Samstagabend auch noch voll ist, natürlich im Rahmen der aktuellen Corona-Bestimmungen - ein würdiger Rahmen für ein memorables Konzert.
 
Memorabel deshalb weil die WDR Big Band unter der Leitung des Schweden Magnus Lindgren einmal mehr eindrucksvoll zeigt wie vielschichtig sie zu musizieren versteht. Und weil der Abend ein bunt schillerndes Programm bereithält. Mit Sprechgesang zu quirligen Beats, einer von David Linx komponierten, hochemotionalen Hommage an die verstorbene Jazzdiva Betty Carter, lässigem Souljazz oder schnellem, fulminanten Swing. Und wann hat man den tausendfach interpretierten, in Essen maximal schleppend daherkommenden Duke Ellington-Klassiker „In A Sentimental Mood“ je so berührend empfunden!
 
Dass David Linx zu den eigenwilligsten, individuellsten Stimmen des europäischen Jazz zählt, zeigt der Belgier mit der sanften Stimme mit und auch ohne Worte bei seinem Gesang. In einer intimen, unter die Haut gehenden, von ihm selbst ins Französische übersetzten Version eines Stückes des bekannten brasilianischen Komponisten Ivan Lins etwa. Aber auch in den feinen Duetten mit der charismatischen, stimmgewaltigen Fay Claassen.
 
Wie schön dass alle Beteiligten diese fruchtbare Zusammenarbeit auch auf Vinyl und CD festgehalten haben. „And Still We Sing“ ist frisch aus dem Presswerk gekommen, das Essener Publikum griff nach dem Konzert bereits zu.
   
Text: Christoph Giese

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PUNKT Festival
Kristiansand, Norwegen

 
Zum zweiten Mal in diesen Pandemiezeiten setzt das Festival PUNKT ausschließlich auf norwegische oder in Norwegen lebende Künstler. Natürlich wäre es in diesem Jahr auch möglich gewesen Musiker aus dem Ausland einzufliegen - der Virgin Jazz Face-Mitarbeiter hat es ja auch aus Good Old Germany ins dieses Mal durchgehend sonnige und angenehm warme Kristiansand geschafft. Aber warum sich unnötig Stress machen, wenn man so eine kreative Musikszene direkt vor der Haustür hat, ein Füllhorn an Künstlern, die man einladen kann. Und die man auch in ungewöhnlicher Weise miteinander kombinieren kann. Außerdem wollten die Festivalmacher auf Nummer sicher gehen, was sich auch als richtig erweisen sollte. So musste das geplante Konzert von „Dark Star Safari“ ausfallen, um allerdings durch ein fantastisch miteinander agierendes PUNKT Ensemble mit Jan Bang, Erik Honoré, Eivind Aarset und weiteren Musikern ersetzt zu werden. Wie diese Band, die ja eigentlich keine ist, den Zuhörer auf eine Klangreise durch Beats, geheimnisvolle Sounds und Reminiszenzen mitnahm, das war wunderbar zu erleben. Und von „Dark Star Safari“ gab es in Kristiansand immerhin schon das neue, zweite Album zu erwerben. Und „Walk Through Lightly“ ist ein sehr hörenswertes Werk geworden.

Das Auftaktkonzert der 17. Festivalausgabe stand ganz im Zeichen vom 25. Geburtstag von Bugge Wesseltofts Plattenlabel Jazzland. Um die 250 Produktionen hat Jazzland inzwischen veröffentlicht. Der Labelchef konnte zwar leider nicht persönlich vor Ort sein wegen anderer Verpflichtungen, aber er hatte zuvor eine Geburtsband für PUNKT zusammengestellt. Bekannte Namen waren nur zwei der insgesamt sechsköpfigen Formation, nämlich Saxofonist Håkon Kornstad und Bassist Audun Erlien. Zu diesen beiden arrivierten Namen der norwegischen Musikszene gesellen sich im Retro-Chic des Gebäudes vom Blå Kors vier junge Damen - die Geigerin Harpreet Bansal, Tablaspielerin Sanskriti Shrestha, Gitarristin Lilja und Schlagzeugerin Veslemøy Narvesen. Was wie eine wild zusammengewürfelte Truppe unterschiedlicher musikalischer Herkünfte klingt und ja auch ist, entpuppt sich aber als überraschend homogenes, vielschichtiges, mutig agierendes Ensemble, das sich wunderbar gegenseitig zuzuhören vermag und eine herrlich organische, stilübergreifende Musik, von klassischen indischen Klängen bis zu diversen Spielarten des Jazz und Nordic Folk, präsentiert.

 
Die beiden Hauptabende fanden zum zweiten Mal im langjährigen, ziemlich modernisierten Festival-Hotel Norge statt. Im obersten Stockwerk der große Konferenzraum, das hört sich erst einmal schrecklich an, aber es ist in der Tat ein wunderbarer, sehr gut klingender Konzertraum mit tollem Blick auf Kristiansand. Und mit einer digitalen Riesenleinwand am Bühnenhintergrund, die viele visuelle Umsetzungen des Gehörten ermöglicht. Und das visuelle Element war und ist bei PUNKT immer ein wichtiger Baustein des Konzeptes.
 
Die Osloer Geigerin Harpreet Bansal, Tochter indischer Eltern, durfte an Festivaltag zwei ihre eigene Band, besetzt mit Harmonium, Bass, Santur und Tablas, und ergänzt um dem fabelhaften Cellisten Svante Henryson, und ihre eigene Musik vorstellen. Wie sie dabei die Tradition der klassischen indischen Raga mit Jazz und nordischem Folk zusammenbringt – aufregend und hörenswert. Wie auch der Musikmix der Band des Hardanger Fiddlers Nils Økland, in der Mats Eilertsen den Bass spielt. Traditionelle norwegische Folklore, klassische und zeitgenössische Elemente und Jazz, das alles so schlüssig miteinander verbunden, da lässt man sich mitnehmen auf beseelte Ausflüge in verzaubernde Klangwelten. Mats Eilertsen hat übrigens zwei neue, eigene CDs am Start: Das herrlich vielschichtige, mit Effekten über den akustischen Bass gelegte Soloalbum „Solitude Central“ und das ebenfalls in vielen Farben schimmernde, im Quartett unter anderem mit Saxofonist Tore Brunborg aufgenommene, im frühen Winter offiziell erscheinende „Hymn For Hope“.  

 
Für Klangwelten ganz anderer Art sorgte Gitarrist Eivind Aarset mit seinem Release-Konzert seines neues Albums, das dieser Tage bei Jazzland erscheint: „Phantasmagoria, or A Different Kind Of Journey“. Mit seinem „4tet“, mit E-Bass und gleich zwei Drummern besetzt, lotet Aarset dabei mit seinem Ambient-Jazz viele Möglichkeiten seines Instrumentes aus, bin hin zur völligen Verfremdung des Gitarrentons, türmt mit Hilfe von elektronischen Bearbeitungen laute, mächtige Klangberge auf, die von grandiosen Visuals getragen den Zuhörer fast in die Galaxie schießen.  Wie will man das anschließend remixen? Mastermind Helge Sten gab die Antwort und führte den intergalaktischen Soundtrip mit eigenen Ideen aufgefüllt einfach fort.

 
Dass PUNKT auch der nächsten Generation von Musikern ein Podium gibt, dieses Mal sogar am Samstagabend zur Prime Time, ist großartig. Vor allem wenn man dann so ein Talent wie die junge Sängerin und Komponistin Benedikte Kløw Askedalen, eine ehemalige Studentin von PUNKT-Mastermind Jan Band an der Agder-Universität in Kristiansand, mit ihrer Auftragsarbeit für Festival auf der Bühne sieht. Zwischen Folk, Pop und Improvisation changierend, hört man schöne Kompositionen, die zwischendurch immer wieder spannend aufgebrochen werden. Und es gab noch so viel weitere wundervolle Momente beim PUNKT 2021. Etwa der kurze Sologig von Håkon Kornstad mit geloopten Sounds und berührendem klassischen Gesang. Oder die Remixe nach den meisten Konzerten, die das zuvor Gehörte jeweils in ein anderes Licht rückten. Und das visuell, aber vor allem auch für die Ohren. Offen sollten sie sein, dann bietet PUNKT jedes Mal wieder eine Menge Entdeckungen. Und sowieso lohnt sich eine Reise in den landschaftlich traumhaft schönen Süden Norwegens.
 

Text: Christoph Giese; Fotos: Alf Solbakken & Petter Sandell

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Jazzkaar 2021

Tallinn, Estland

Mystisch klingt es, wenn Naïssam Jalal in eine ihrer Flöten bläst und zwischen modalem Jazz und traditionellen orientalischen Motiven changiert. Packend, wenn sie beim Flöte spielen zwischendurch noch ergreifend singt. Die syrisch-französische Flötistin und Sängerin sorgte mit ihrem Trio mit ihren beiden großartigen Begleitern und Klanggestaltern, Pianist Leonardo Montana und Kontrabassist Claude Tchamitchian, beim letzten Konzert des Auftaktabends des diesjährigen „Jazzkaar“-Festivals für magische, intime und sehr berührende Momente im kleineren der beiden Hauptspielorte des Festivals mitten im Kreativquartier Telliskivi der estnischen Hauptstadt. Im Fotografiska herrschte eine besondere Stimmung beim Hören dieser außergewöhnlichen Musik, mit der man anschließend richtig beseelt nach Hause ging.
 
Tallinn, am Finnischen Meerbusen gelegen, gegenüber von Finnlands Hauptstadt Helsinki, das prima mit einer Fähre erreicht werden kann, mit seiner postkartenschönen Altstadt und der zauberhaften Natur in unmittelbarer Nähe, beheimatet das größte Jazzevent des Baltikums. Eigentlich findet es jedes Jahr im Frühjahr statt, wegen Corona nun im Spätsommer, der sich in Tallinn mit seinen doch schon frischen Temperaturen aber eher schon zumindest wie Frühherbst anfühlt. Aber der Sommer war ungewöhnlich heiß, wie im ganzen Baltikum und der Este beschwert sich sowieso eher nicht über das Wetter.
 
Am ersten Abend von drei Terrassenkonzerten, bei denen estnische Musiker in kleinen Besetzungen auf Terrassen von Privatpersonen spielen, ist sogar der Himmel blau. Und so sitzt man da, hoch oben auf dem Dach eines Wohngebäudes im beliebten Stadtviertel Kadriorg, schaut über Teile der Stadt, und hört der Sängerin Eleryn Tiit zu, die im Duo mit einem Gitarristen mit poppigen Klängen ganz nett unterhält.  
 
Musikalisch spannender war da später am Abend der Auftritt des estnischen Schlagzeugers Tanel Ruben im größten Saal des diesjährigen Festivals, ist sein Quintett mit Bassist Taavo Remmel, Saxofonist Raivo Tafenau und den beiden auch in Deutschland bekannteren Akteuren, Pianist Kristjan Randalu und Sängerin Kaadri Voorand, doch eine echte estnische All Star-Band. Voorand ist eine charismatische Frontfrau, die mit auf Estnisch gesungenen, aber mindestens genauso mit ihren freien Vokalimprovisationen immer wieder mitreißt in einem wohlklingenden, melodischen Mainstream-Jazz.
 
Das Publikum bei „Jazzkaar“ ist erfreulich jung. Liegt vielleicht auch ein wenig an der Venue des Festivals. Denn das Kreativquartier Telliskivi, auf dem Gelände einer ehemaligen Fabrik, ist ein echt hipper Ort geworden, in dem Unternehmen, Organisationen und Start-Ups beheimatet ebenso wie Design-Shops, eine Galerie, drei Theater sowie Restaurants und Bars. Für dieses junge Publikum sind Acts wie der liberianisch-finnische Soulsänger Jesse Markin oder die estnische Sängerin Ellip mit ihrem Mix aus groovigem R&B und Jazz beim diesjährigen „Jazzkaar“ genau richtig. Da werden dann die Stühle im Saal weggeräumt und es herrscht Club-Atmosphäre.
 
Entdeckenswert in Tallinn: Die wunderschönen, vielfach sanften und getragenen jazzig-poetischen Songs mit Singer/Songwriter- und Popcharakter des Quintetts der estnischen Bassistin Mingo Rajandi. Die spannenden Klangsuchereien des kongenialen Duos des französischen Perkussionisten Mino Cinélu mit dem norwegischen Trompeter Nils-Petter Moolvær. Oder die „London-Tallinn Cosmic Bridge“, ein interessantes Projekt in Quartettbesetzung vom so kreativen und vielseitigen estnischen Gitarristen Jaak Sooäär und der in England lebenden, polnisch-ukrainischen Harfinistin Alina Bzhezhinska – unter anderem mit Tributsongsan John und Alice Coltrane.
 
Und dann war da noch das in Amsterdam beheimatete Trio „Tin Men and the Telephone“, das zeitgemäßer kaum sein könnte. Denn der Dreier um Pianist Tony Roe musiziert nicht nur parallel zum Wortlaut von Kommentaren oder Interview-Ausschnitten, etwa von Greta Thunberg zur Klimakrise, die live auf einer großen Leinwand gezeigt werden, sondern bindet das Publikum immer wieder mit ins Geschehen ein. Auf den eigenen Smartphones sollen die Zuhörer mal Melodien, mal Beats kreieren, mittels einer App, die vor Konzertbeginn heruntergeladen werden muss. Die Ergebnisse werden über die Lautsprecherboxen abgespielt, die besten mittels der App ausgewählt, und darüber improvisiert dann das Trio. Alles eingebunden auf einer imaginären Reise zum Planeten Jazzmars. Das Konzept hat schon einen hippen Charakter, wurde von den Tin Men zur schon mitternächtlichen Stunde aber vielleicht ein wenig zu sehr ausgereizt.
 
Eine andere Dreierbande in der Besetzung Klavier, Bass und Schlagzeug, das Trio des estnischen Bassisten Raimond Mägi, forderte beim Zuhören. Mit einer Mischung aus Jazz, Improvisation, Progrock und experimentellen Sounds, abenteuerlichen undmutigen Klangbildern. Estlands Jazzszene hat einiges zu bieten – und „Jazzkaar“ präsentiert dem neugierigen Zuhörer davon jedes Mal wieder aufs Neue.  
 

Text: Christoph Giese;  Fotos: Festival Jazzkaar


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Riga Ritmi 2021 2021
Riga, Lettland
 
Wie klingt lettischer Jazz? Ziemlich packend kann er klingen! Beim Kristaps Vanadziņš Trio ist das zumindest so. Der charismatische lettische Pianist und seine beiden Mitstreiter spielen ein starkes Konzert bei der 21. Ausgabe von Rigas Ritmi, dem größten Jazzevent des Landes. Starke Melodien, kraftvolles Interagieren der drei Musiker, durchzogen von lyrischen Momenten, feines Songwriting, frische Klangbilder – diesem Trio zuzuhören macht einfach durchweg Spaß. Und wer dann am Schluss noch derart gewitzt Gershwins Klassiker „I Loves You, Porgy“ interpretiert, der kann schon fast sicher sein viel Applaus zu bekommen. Vanadziņš spielte in einer hippen Location, direkt am Wasser, unweit der Daugava, dem über 1000 Kilometer langen Strom, der durch Riga zieht bis hinein in das Baltische Meer. Und die Konzerte in diesem coolen, halboffenen Kunstzentrum hat das Plattenlabel Jersika Records organisiert, das seiner Bezeichnung alle Ehre macht, veröffentlicht es doch nur Vinyl. Mareks Ameriks hat sein Independent-Plattenlabel 2017 gegründet mit der Idee überwiegend komplett analog aufzunehmen, um einen warmen, organischen Sound zu garantieren. Und Mareks Ameriks hat mit seiner Bühne in diesem Jahr ein kleines Festival im Festival kreiert, um seine Künstler vorzustellen.
 
Im Musikhaus Daile, mitten in Riga, schaute kurz zuvor das Quartett des litauischen Bassisten Leonid Shinkarenko, „Shinkarenko Jazz 4N“, vorbei mit seinem groovenden Fusion-Jazz, der aber vor allem durch die beiden gerne auch mal unisono agierenden Bläser Jan Maksimovich und Vytautas Labutis bestechende freie Improvisationen in die durchkomponierten Nummern eingestreut bekam. Und wenn Sängerin Neda, eine der spannendsten Stimmen Litauens, als Gast zu der Band stieß, bekam das Ganze durch ihren improvisierten Gesang noch mal eine ganz andere Dimension.
 
Ein Highlight des Festivals war sicher der Auftritt des Spaniers Antonio Lizana mit seiner Band im großen, altehrwürdigen VEF Kulturpalast, ein wenig außerhalb von Rigas Stadtzentrum gelegen. Gleich zwei Flamenco-Tänzer waren an diesem Abend dabei, der so ausdrucksstarke Mawi de Cádiz und Lizanas mehr elegant agierende Schwester Nieves. Wie Antonio Lizana Jazz mit Flamenco kreuzt, wie er sein heißes Altsax jazzig zum Glühen bringt, um dann mit heister-betörenden Stimme Flamenco zu singen, das ist einfach einzigartig gut, weil mitreißend, vibrierend, gut durchdacht und gespielt.
 
Abendliche Jam Sessions unter freiem Himmel in einem großen Innenhof und bei freiem Eintritt rundeten das Festival ab. Da strömten dann viele junge Leute, von denen einige auch schon zuvor Tickets gekauft hatten, um in einer ebenfalls coolen Location auf dem gleichen Gelände lettische Bands wie das in Ansätzen durchaus schon vielversprechende, junge Toms Mikāls Trio zu hören.
 
Das eine oder andere Bezahlkonzert hätte in diesem Jahr sicher deutlich mehr Publikum verdient gehabt, aber bis wenige Wochen vor Festivalbeginn war überhaupt nicht klar ob und wie Rigas Ritmi 2021 wird stattfinden können. Spielorte wurden geändert und immer wieder auf die aktualisierten Vorgaben geschaut. So was verunsichert dann irgendwann auch ein Publikum. Aber Festivalleiter Maris
 
Briežkalns ist dennoch froh, das Festival gemacht zu haben. Wahrgenommen zu werden, sichtbar bleiben, das war und ist ihm wichtig. Und das ist ihm auf jeden Fall mit der aktuellen Ausgabe gelungen.
   
Text: Christoph Giese; Fotos: Rigas Ritmi


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Neue konzertreihe in der "werkstatt" in Gelsenkirchen-Buer
 
Die Kunst des Duos, intime Konversationen und musikalische Interaktionen von nur zwei Musikern – diese Idee steckt hinter der vierteiligen, vom Gelsenkirchener Journalisten und Fotografen Christoph Giese erdachten und konzipierten Konzertreihe „The Art of the Duo“, die jetzt startete und bis zum kommenden März in der Kunstgalerie „werkstatt“ in Gelsenkirchen-Buer laufen wird.
 
Da die Konzeption der Reihe von vornherein vorsah, alle Konzerte zu filmen, danach zu bearbeiten und einen circa einstündigen Zusammenschnitt online auf der „werkstatt“-Webseite zu veröffentlichen, fand das erste Konzert auch tatsächlich statt, nur wegen der Corona-Vorschriften ohne Publikum.
 
Dennoch war es Balsam für die schon ein wenig kulturentwöhnte Seele, dem beseelten Spiel des rumänischen Holzbläsers Nicolas Simion und des holländischen Pianisten Mike Roelofs zuzuhören.
 
Bis März erwartet die Zuhörer, dann hoffentlich mit Publikum live vor Ort, noch orientalische Weltmusik, brasilianische Klänge und ein preisgekröntes, holländisches Fado-Duo, das selbst im portugiesischen Fernsehen schon für Aufsehen sorgte durch einen Auftritt mit Fado-Königin Mariza.
 
Weitere Infos zu den drei noch kommenden Konzerten sowie das Auftaktkonzert-Video gibt es hier: https://bit.ly/37ksfn3
 
Text: Christoph Giese


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Lars Danielsson Group in der Essener Philharmonie

Lineup:
Lars Danielsson – Bass & Violoncello
Grégory Privat - Piano
John Parricelli - Gitarren
Magnus Öström – Schlagzeug & Perkussion
 
Die werte Gattin war erst am vergangenen Sonntag in der Stadt. Sängerin Cæcilie Norby verwöhnte da mit ihrer Frauencombo das Publikum im Grillo-Theater (wir berichteten). Nun spielte Bassist Lars Danielsson mit eigener (Herren-)Band in der Essener Philharmonie groß auf.
 
Ja, so muss man es nennen. Wunderschön und schwer aus dem Ohr zu bekommen sind die Melodien des Schweden und seiner drei kongenialen Begleiter. Zudem geschickt zwischen Jazz, Klassik, Pop und europäischer Volksmusik fließend.
 
Auch der Bandleader selbst lässt die Musik fließen, mit seinen so singbaren Basstönen. Der sperrige Tieftöner als melodieführendes Instrument – bei Lars Danielsson funktioniert das in jeder Note wunderbar.
 
Na klar, der Schwede  rückt den eigentlichen Rhythmusknecht Kontrabass an diesem Abend immer wieder auch in den Vordergrund. Ohne dabei aber den Fluss der Musik zu unterbinden. Und ohne seinen drei Kollegen die Räume zu nehmen. So hat der Brite John Parricelli seine Momente für ein rockiges Gitarrensolo oder für dezent unterstützende Soundlandschaften, darf der französisch-karibische Pianist Grégory Privat seine einfallsreiche Virtuosität ausbreiten und Schweden-Drummer Magnus Öström seinen Sinn für Groove und Antrieb unter die Stücke mischen.
 
Vom Ohrwurm über tänzerische Momente, einer quirligen Passacaglia im Viervierteltakt bis hin zu einer sanft schwingenden Ballade – dieses Konzert bot ein einziges Verwöhnprogramm.
 
Text & Fotos: Christoph Giese


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Die „Sisters In Jazz“ zu Gast bei „Jazz in Essen“ im Grillo-Theater in Essen
 
Lineup:
Cæcilie Norby – Gesang & Percussion
Rita Marcotulli - Klavier
Pernille Bevort – Saxofon
Lisa Wulff – Bass
Benita Haastrup - Schlagzeug

Meistens hat sie in ihrer inzwischen über 30-Jährigen Karriere mit Männern zusammengespielt. Aber im letzten Jahr nahm die dänische Sängerin Caecilie Norby eine Platte mit dem Titel „Sisters In Jazz“ auf. Nur mit Frauen. Dieses Projekt war am Sonntag wegen Corona gleich zwei Mal zu hören bei der Konzertreihe „Jazz in Essen“.
 
Fünf Frauen aus drei europäischen Ländern stehen oder sitzen auf der Bühne des Grillo-Theaters. Und spielen auch noch ausschließlich von Frauen komponierte Musik.
 
Etwa die wunderschöne, viel gecoverte Ballade „Willow Weep For Me“ von Ann Ronell, ein alter Song aus der Tin Pan Alley-Ära. Oder  eine boppende Swingnummer aus der Feder von Jazzsängerin Betty Carter. Oder Abbey Lincolns „Wholly Earth“, dem das vorzügliche Damen-Quintett einen aufregenden Afro-Touch verpasst.    
 
Die fünf Musikerinnen, darunter die deutsche Bassistin Lisa Wulff, unterhalten prächtig mit einem bunten Programm, bei dem auch Carole Kings berühmter Liebessong „Will You Still Love Me Tomorrow“ nicht fehlt.
 
Eine feine Überraschung gibt es dann noch am Schluss. Zur stürmisch geforderten Zugabe kommt die ausdrucksstarke Grand Dame des Jazzgesangs in Dänemark nur mit Pianistin Rita Marcotulli zurück auf die Bühne, um Leonard Cohens Hymne „Hallelujah“ zu singen. Und biegt dabei kurzzeitig ab in elektronisch bearbeiteten klassischen Gesang.  
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Kurt Rade


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Jazz-Pott verliehen an das Julia Kadel Trio
 
Ihre Stücke tragen Titel wie „Distant Liebe“, „Dependency“ oder „Herunterfallen“. Ihr aktuelles Album beim renommiertem Schwarzwälder Plattenlabel MPS hat sie „Kaskaden“ genannt. Daran lässt sich schon erahnen, dass Julia Kadel eine ungewöhnliche Musikerin ist. Eine mit einer ganz eigenen Idee vom Pianotrio-Jazz. Das sah man auch in Essen so, und deshalb bekam die Berliner Pianistin am Wochenende im Grillo-Theater den diesjährigen Essener „Jazz Pott“ verliehen.
 
Mit wegen Corona gleich zwei Preisträgerkonzerten am Nachmittag und am Abend zeigte das neu formierte Julia Kadel Trio dann direkt nach der Preisverleihung, wie es gemeinsam Musik machen definiert. Es ist ein weitestgehend ausnotierter, kollektiver Prozess des Kreierens. Von geräuschhaften Momenten, die sich verdichten zu melodischen Strängen, die dann verschlungene Wege weitergehen. Dabei kontrastieren Bassist Phil Donkin und Schlagzeuger Devin Gray gerne auch mal die Spaziergänge über die Klaviertastatur der Bandleaderin.
 
Man muss sich als Zuhörer schon intensiv auf die abstrakten, verqueren, kammermusikalischen Ideen dieses Trios einlassen, um sie verfolgen zu können.

Am Ende führt ein wunderschöner, lyrischer Epilog aus dem Programm. Fast, denn in der Zugabe umspielt Julia Kadel solo mit ein paar  Klavier-Akkorden noch das Summen des Publikums. Ums Summen hatte sie die Zuhörer zuvor gebeten. Denn das sei nach den Corona-Bestimmungen ja noch erlaubt.
 
https://juliakadel.com/          
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Kurt Rade


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Ankündigung der: „41. Leverkusener Jazztage“

Die gute Nachricht vorweg: Die 41. Leverkusener Jazztage werden stattfinden! Auch wenn das komplette, geplante Hauptprogramm ins kommende Jahr geschoben werden muss. Die aktuellen Corona-Beschränkungen für Versammlungsstätten, aber auch die Reisebeschränkungen der Künstler lassen Auftritte von Stars wie Gregory Porter, Melody Gardot oder Jamie Cullum derzeit einfach nicht zu.

Aber davon haben sich die Macher des renommierten Festivals in Leverkusen nicht entmutigen lassen und ein hörenswertes Alternativprogramm auf die Beine gestellt, das vom 5. bis zum 21. November in den beiden kleineren Spielstätten des Festivals, dem Bayer Erholungshaus und dem Scala Club Opladen, über die Bühnen gehen wird.
 
Mit dabei sind Flamenco-Gitarrenvirtuose Rafael Cortés aus Essen als Zugpferd einer Flamenco-Nacht (15.11.). Oder Sänger Max Mutzke, der in einem Duo auf die kubanische Pianistin Marialy Macheco trifft (17.11.).
 
Aus dem hohen Norden Europas kommt am 12.11. nicht nur ein weiteres Duo, das der beiden Schweden Nils Landgren (Posaune) und Jan Lundgren, (Klavier). Tags darauf ist das Trio des schwedischen Pianisten Martin Tingvall zu Gast am Rhein - und am 14.11. die norwegische Sängerin Rebekka Bakken.
 
Mit dem Trompeter Nils Wülker, Drummer Wolfgang Haffner und Blödelexperte Helge Schneider ist Deutschlands Szene ebenfalls hochkarätig in Leverkusen vertreten.
 
Es wird in diesem Jahr sicher ein anderes Festival werden, ohne die ganz großen Konzerte im Forum. Aber weniger musikalische Spannung verspricht dieses modifizierte Programm deshalb nicht.  
 
Alle Termine, weitere Infos und Tickets unter www.leverkusener-jazztage.de.

Ticket-Hotline: 02171-767959.

Text & Fotos: Christoph Giese


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PUNKT Festival 2020 in Kristiansand, Norwegen

Absagen wollte man es nicht. Und wenn man so ins strahlende Gesicht von Erik Honoré schaut, dann ist einer der beiden Festivalgründer von PUNKT ziemlich froh, dass man das so besondere Remix-Festival im Süden Norwegens auch in diesem seltsamen Corona-Jahr durchgezogen hat. Ein wenig modifiziert, zugegebenermaßen. Aber manchmal bieten Limitationen auch Möglichkeiten. So gab es dieses Mal nur norwegische Künstler zu sehen und zu hören, was bei der großen Dichte an spannenden Musikern in dem Land alles andere als ein Nachteil ist.

 
Das machte schon der Eröffnungsabend deutlich. Die Pianistin und Sängerin Susanna Wallumrød, die als Künstlerin nur unter ihrem Vornamen auftritt, wärmt das Herz der Zuhörer mit dem Programm ihrer neuen CD „Baudelaire & Piano“. Auf dem vertont sie Gedichte des Franzosen Charles Baudelaire und interpretiert sie wie in Kristiansand nur mit Stimme und Piano. Minimalistisch, intim und berührend ist das, optisch unterlegt mit starken Visuals und Lichteffekten auf der Riesenleinwand am Bühnenhintergrund. Richtig spannend was direkt im Anschluss der Remixer Bendik Baksaas aus dem Konzert macht. Ausgehend von einer gesampelten und geloopten Sequenz der Stimme von Susanna begibt sich der Norweger auf einen ausufernden Trip aus Sounds und Beats bevor er irgendwann zum Klavierspiel und zur Stimme Susannas zurückkehrt, diese interessanterweise auch noch zur Männerstimme runterpitcht und parallel zur ebenfalls bearbeiteten Frauenstimme laufen lässt.
 
Ebenfalls ganz alleine mit seinem Instrument, dem Kontrabass, präsentiert sich Mats Eilertsen – und kreiert einen magischen, gut halbstündigen Set aus akustischem Spiel und elektronischen Erweiterungen. Magie ist eigentlich auch immer dabei, wenn Arve Henriksen, Jan Bang und Eivind Aarset zusammen musizieren. Dieses Mal stellen die drei, begleitet von drei eindringlichen Streichern, ihre Auftragsarbeit für eine Soundinstallation für eine Brücke in England erstmals als Live-Projekt vor. Sehr atmosphärisch schwebende Musik und Sounds, dazu der in die Höhe geschraubte Gesang von Trompeter Arve Henriksen und seine so sehnsuchtsvollen, unverwechselbaren Trompetenlinien - „The Height Of The Reeds“ ist ein packendes Stück Musik, ganz in der Tradition von PUNKT. In der traumverhangenen Stimmung dieses Konzertes wäre man gerne noch geblieben, aber Remixer Helge Sten holt mit seinem lauten, grellen Remix das Publikum schnell wieder zurück in die Realität.
 
Absagen wollte man PUNKT 2020 schon alleine deshalb nicht, um den norwegischen Künstlern und auch den Mitarbeitern wie Sound- und Lichtcrew nicht absagen zu müssen. Denn für alle ist die aktuelle Lage schwierig. Und wahrscheinlich sei die finale Ausgabe sogar noch stärker als das ursprünglich geplante Line-Up, bei dem auch ausländische Musiker eingeplant waren, meint Erik Honoré. Ja, in Norwegen kann man sich glücklich schätzen über so eine große Bandbreite an Spitzenkünstlern im Bereich des Jazz und der elektronischen Musik. Und fast alle aus dem engen Kreis der immer wieder bei PUNKT auftretenden Künstler kamen dieses Jahr nach Kristiansand.  
 
Auch wegen Corona fanden alle Konzerte im langjährigen Festival-Hotel Norge statt. Das ist gründlich umgebaut und ziemlich modernisiert worden. Im obersten Stockwerk befindet sich jetzt ein großer Konferenzraum, der auch als Theater genutzt werden kann. Ein schöner Ort mit tollem Blick auf Kristiansand und ein würdiger, hervorragend klingender Konzertsaal mit einer Riesenleinwand, die für die visuellen Umsetzungen des Gehörten ideal war.
 
Das Visuelle ist bei PUNKT nämlich immer mit im Fokus. Und so ist das Konzert der beiden Soundtüftler Jan Bang und Eivind Aarset ein aufwühlendes audiovisuelles Erlebnis. Ihr gemeinsames Albumprojekt „Snow Catches On Her Eyelashes“ changiert zwischen atmosphärischen Melodielinien, anschwellenden Energien hin zu verqueren Sounderuptionen. Und hallt ebenso grandios nach im direkt anschließenden Remix mit Trompeter Nils Petter Molvær, Drummer Audun Kleive und dem jungen Soundbearbeiter Kristian Isachsen.
 
Und dann war da noch die Pianistin und Komponistin Anja Lauvdal, die sich als „Artist in Residence“ an allen drei Abenden mit einem unterschiedlichen Projekt zeigen durfte. Mit ihrem langjährigen Trio „Moskus“, einer ambitionierten Auftragsarbeit mit Streichquartett und dem wohl verblüffendsten Projekt, der Band „Finity“. Mit Tuba, Saxofon und Trompete, Schlagzeug, Klavier und Electronics werden Songs der amerikanischen R&B-Superband „Destiny´s Child“ dekonstruiert und neu zusammengesetzt. Ein herrliches Musikvergnügen – und einmal mehr Beweis, dass es nichts gibt was bei PUNKT nicht möglich ist.
 
www.punktfestival.no
Text: Christoph Giese; Fotos: Petter Sandell


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Riga Ritmi 2020

Einen runden Geburtstag lässt man nicht so einfach ausfallen. Dachten sich auch die Macher von Rigas Ritmi in Lettlands Hauptstadt Riga. Und sagten ihr Festival eben nicht ab, wie es die meisten anderen Sommerfestivals so taten und aufgrund vieler Restriktionen teilweise tun mussten. In Riga aber ist von Corona Anfang Juli nichts zu spüren. Das Land hat nur gut 1.000 nachgewiesene Infizierte bis zu diesem Zeitpunkt. Und jeden Tag infizieren sich vielleicht ein oder zwei Menschen neu. Deshalb sieht man auch nirgends Masken, nicht draußen auf den Straßen und auch nirgends in den Gebäuden. Selbst in den Hochzeiten des Virus, im März und April, war alles weiterhin geöffnet - Geschäfte, Restaurants. Aber viele schlossen trotzdem, weil die Kundschaft vorsichtig war und wegblieb. Nur Konzerte gab es keine. So berichtet Kaspars Zavileiskis, zuständig für die Kommunikation bei Rigas Ritmi, von leuchtenden Augen, von bewegten Zuhörern, als in Lettland die ersten Konzerte wieder stattfinden durften, mit maximal 20 Leuten.
 
Beim Festival ist das längst wieder großzügiger erlaubt. Ohnehin finden alle Auftritte der um einen Tag verkürzten Jubiläumsausgabe draußen statt. Das Programm wurde angepasst. Internationale Stars wie der kubanische Pianist Roberto Fonseca kommen erst gegen Ende des Jahres nach Lettland, Rigas Ritmi 2020 widmet sich im Juli ausschließlich der lettischen Szene. Da ist zum Beispiel der Gitarrist Rainis Jaunais, ein Weltenbummler, der gerne neue Ecken auf diesem Planeten entdeckt, davon auch gerne erzählt und sich musikalisch inspirieren lässt. Jazz ist es nicht wirklich was der hochvirtuose, sehr sympathische Gitarrero so spielt im Quartett. Eher folkig angehauchte Popmusik. Aber mit seiner Akustikgitarre kann der Mann aus Riga so ziemlich alles anstellen. Eine Weile dem zuzuschauen, machte schon Spaß. Viel Spaß bereitete auch der Auftritt von Rūta Dūduma und ihrer Band. Die Sängerin hat vielleicht nicht die riesigste Stimme, dafür aber viel Charisma und echte Bühnenausstrahlung. In erster Linie sang sie sich durch ein Jazzstandardprogramm. Aber wie sie die alten, bekannten Klassiker sang, das hatte einfach was. Und dann war da ja noch Musik von Rachmaninow, die das Quintett wie selbstverständlich in den Jazz überführte und die Rūta Dūduma dann natürlich auf Russisch zum Klingen brachte.
 
Wer sich selbst „Very Cool People“ nennt, hat schon Mal Humor. Und sollte dann tatsächlich aber auch cool sein. Die achtköpfige Truppe um Gitarrist und Bandgründer Elvijs Grafcovs ist es. Nicht nur sieht die Band in ihren schwarzen Anzügen lässig auch, ihr selbstkomponierter Jazzfunk klingt frisch, frech, ja auch cool, und in jeder Note bestens gelaunt. Im zweiten Konzertteil dann zusammen mit der in Lettland populären Popsängerin Aija Andrejeva in einer Premiere Lieder von Janis Joplin zu servieren – eine Superidee, weil stark und überzeugend umgesetzt.
 
Einen echten Jazzclub sucht man in Riga übrigens vergebens. Die, die es mal gab, funktionierten wirtschaftlich irgendwie nicht. Aber es gibt eine nette Cider-Bar am Rande der Altstadt mit einem Raum und einem Innenhof für Konzerte – je nach Wetterlage. Dort präsentierten sich an den drei Festivalabenden junge Bands. Und Nachwuchsjazzer durften bei anschließenden Jam Sessions mitmachen in diesem ungezwungenen Ambiente.
 
Es war ein besonderes Festivalerlebnis in Riga, in diesen Zeiten. In einer spannenden Stadt, die sich in diesem Sommer längst nicht so voll zeigte wie sonst um diese Jahreszeit. Was ja nicht unbedingt schlecht ist. Downsizing im Tourismus - wenn Corona was Gutes an sich hat, dann zählt das sicher dazu.
 
www.rigasritmi.lv
Text: Christoph Giese; Fotos: Jānis Škapars


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JazzNacht Zollverein 2020 wird verschoben
 
Statt im Mai jazzt es nun im kommenden Februar auf dem UNESCO-Welterbe in Essen
 
Sie sollte eigentlich in gut vier Wochen stattfinden, am 2. Mai. Der Vorverkauf lief auch bereits schon sehr gut. Doch die dritte Ausgabe der bislang so erfolgreichen JazzNacht Zollverein in Essen ist ein weiteres Opfer der aktuellen Corona-Pandemie - und muss nun verschoben werden. Ein neuer Termin konnte mit dem 6. Februar 2021 rasch gefunden werden. Ein Samstag, wie der 2. Mai auch.  Und glücklicherweise können beide Bands sowie der eingeplante DJ zum neuen Termin nach Essen kommen. Das Trio der jungen tschechischen Pianistin Nikol Bóková sowie als Topact Deutschlands prominentester Jazzschlagzeuger Wolfgang Haffner. Der wird auf Zollverein sein neues Album "Kind Of Tango" präsentieren, den dritten Teil einer musikalischen Trilogie des fränkischen Trommlers. Keine Tango-Platte, aber eine durch den Tango inspirierte.      
 
 Die bisher gekauften Tickets behalten ihre Gültigkeit. Weitere Tickets sind erhältlich unter der Telefonnummer 0180-6050400, online unter www.adticket.de oder an allen bekannten VVK-Stellen über ADticket sowie im Besucherzentrum Ruhr in der Kohlenwäsche auf Zollverein.
 
Text: Christoph Giese   Fotos: Christoph Giese & Jan Vala


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32. Internationale Kulturbörse Freiburg
 
Mit einem hochkarätig besetzten Varieté-Abend ging sie zu Ende. Und die Macher der „Internationalen Kulturbörse (IKF)“ dürfen zufrieden sein, können sie doch einen erneuten Besucherzuwachs vermelden. An die 5.200 Besucher und rund 400 Aussteller tummelten sich in der Messe Freiburg.
 
Und auch der eine oder andere Prominente aus Funk und Fernsehen lief durch die beiden Messehallen. Jochen Malmsheimer oder Torsten Sträter traf man natürlich eher an den Ständen, die mit Comedy arbeiten.
 
Die aktuellen Trends und Tendenzen des Kultur- und Eventsbereich zu entdecken, darauf liegt der Fokus der Fachmesse. Künstleragenturen aus Musik, Straßentheater oder Darstellende Kunst, Fachverbände oder natürlich Künstler selbst waren vor Ort.
 
In vielen Kurzauftritten konnte man sich informieren, was sich in diesen Sparten so tut. Etwa dem hochvirtuosen Quintett „Volosi“ aus Polen, bestehend aus fünf Streichinstrumenten, lauschen. Oder dem intimen Duo der schweizerisch-albanischen Sängerin Elina Duni mit dem britischen Gitarristen Rob Luft, die am Ende den Kulturbörsenpreis „Freiburger Leiter“ in der Sparte Musik gewannen und demnächst ins Studio gehen, um für das Münchener Label ECM eine gemeinsame Platte einzuspielen.
 
Auch eine Gesangsstimme aus NRW sorgte für Aufmerksamkeit: Maika Küster aus Dinslaken wusste als Sängerin der Band „Der Weise Panda“ in Freiburg sehr zu gefallen.  
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Blerta Kambo



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JazzLine beim Klavier-Festival Ruhr 2020
 
Satte 74 Veranstaltungen, darunter 66 reguläre Konzerte an 23 Veranstaltungsorten bietet das diesjährige Klavier-Festival Ruhr vom 21. April bis zum 11. Juli. Ein beachtlicher Konzert-Marathon wartet also auf die interessierten Zuhörer. Die Großen und Neuentdeckungen der Klassik-Szene greifen in die schwarz-weißen Klaviertasten.  
 
Und dann gibt es ja jährlich noch die kleine, feine „JazzLine“ beim Festival, bei der Intendant Professor Franz Xaver Ohnesorg gerne auf schon bei seinem Festival bewährte Künstler setzt. So tritt der aus der Dominikanischen Republik stammende Michel Camilo und letztjährige Preisträger des Klavier-Festivals Ruhr  in diesem Jahr bereits zum 19. Mal beim Festival auf, dieses Mal am 8. Mai in der Historischen Stadthalle Wuppertal und mit einem Soloprogramm.
 
Michel Camilo bestimmte als Preisträger auch den jungen Tastendrücker A Bu als diesjährigen Stipendiaten. Der Chinese ist der erste international bekannte Jazzpianist und wird sein Können am 19. Juni im Emil Schumacher Museum in Hagen zeigen.
 
Der deutsche Trompeten-Star Till Brönner ist auch so ein gern gesehener Festivalgast. Dieses Mal trifft er auf einen alten Recken, den mit zwei Grammys ausgezeichneten  US-Pianisten Bob James, eine Legende des Smooth Jazz, unter anderem auch mit der Band „Fourplay“.  Man darf gespannt sein auf das Programm, dass sich diese beiden Herren für ihr Quintett für den 6. Mai in der Essener Philharmonie ausgedacht haben.  
 
US-Pianist Fred Hersch, der letztes Jahr sein Festivaldebüt zusammen mit der WDR Big Band gab, kommt  mit seinem Trio (MiR, Gelsenkirchen, 27. April). Das Dieter Ilg Trio serviert am 18. Mai im Oberhausener Ebertbad sein Programm „Mein Beethoven“. Beethoven steht 250 Jahre nach seiner Geburt beim diesjährigen Festival ohnehin im Fokus. Und auch das Monty Alexander Trio, Chilly Gonzales mit Special Guest Olga Scheps und die Japanerin Hiromi sorgen bei diesem einzigartigen Pianistinnen treffen für jazzige Klänge.   
 
Weitere Infos und Tickets unter www.klavierfestival.de und www.westticket.de.
 
Text: Christoph Giese



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Florian Hoefner Trio im „domicil“ Dortmund
 
Wie klingt ein traditionelles schottisches Seemannslied, gespielt von einem Jazztrio? Und wie eine Bluegrass-Ballade aus Kentucky? Oder ein Folksong aus Neufundland? Sehr interessant, das lässt sich bei all diesen Liedern sagen nach dem Auftritt des „Florian Hoefner Trio“ an diesem Wochenende im Jazzclub „domicil“.
 
Der in Nürnberg geborene Jazzpianist Florian Hoefner tourt gerade durch Europa um sein allererstes Album im Trio vorzustellen. Und die Songs von „First Spring“ basieren eben zumeist auf traditionellen Melodien verschiedensten Ursprungs.
 
Hoefner, den der Job seiner kanadischen Gattin vor einigen Jahren nach St. John´s in Neufundland verschlagen hat, hat sich zuletzt vermehrt mit Americana, Folk- und Countrymusik beschäftigt, die er in Dortmund wie selbstverständlich für eine Jazzbesetzung umarrangiert hat.
 
Wenn der Pianist und seine beiden kanadischen Mitmusiker Andrew Downing am Kontrabass und Nick Fraser am Schlagzeug spielen, dann dürfen die folkigen Ausgangsmelodien auch schon mal swingen, dann ist Raum da für gewitzte Improvisationen, dann wird vertonte Poesie zum leidenschaftlichen Jazzerlebnis.  
 
Oft herrlich entspannt, aber auch zupackend musiziert dieses Trio, verwöhnt mit wunderschönen Melodien, die zwischendurch auch aus der Feder des Pianisten stammen. Ein zauberhafter Konzertabend.
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Günter Maiß


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26. Jazztage Dortmund
 
Ryan Porter feat. The West Coast Get Down
 
Wer mag John Coltrane, will US-Posaunist Ryan Porter kurz nach Beginn seines Konzertes gleich mal vom Publikum wissen. Allzu viele melden sich irgendwie nicht. Vielleicht weil die im ausverkauften Saal vielfach ungewöhnlich jung sind für den normalen Altersdurchschnitt im Dortmunder Jazzclub „domicil“. Und die längst verstorbene Jazzikone gar nicht kennen?
 
An diesem Abend des Eröffnungswochenendes der 26. Jazztage Dortmund stehen mit Ryan Porter und seinem Projekt „The West Coast Get Down“ Künstler auf der Bühne, von denen der eine oder andere beim Meisterwerk „To Pimp A Butterfly“ von US-HipHopper Kendrick Lamar mitgewirkt haben.
 
So wie Saxofonist Kamasi Washington, inzwischen selbst ein Star. Also ist das „domicil“ auch mit Hipstern gefüllt. Und die hören dann eben mit „Impressions“ einen Klassiker Coltranes, aber in der Version des Ryan Porter. Das heißt viel funkiger und auf Jetztzeit getrimmt. Das Thema des Songs dabei viel lässiger gespielt. Aber wenn Kamasi Washington zu seinem minutenlangen, scheidend scharfen  Saxofonsolo ansetzt, dann ist die Spiritualität, die „Trane“ einst auszeichnete, mehr als nur zu erahnen.
 
Ryan Porter und seine vier Mitstreiter liefern in Dortmund mit ihrem Mix aus Souljazz, R&B, Funk, Hardbop und hiphoppiger Attitüde eine energiegeladene, mitreißende, überzeugende Musikmischung, die in nur wenigen Momenten mal ruhig durchatmen lässt.      
 
Bis zum 1. Dezember, wenn US-Saxofonist Chris Potter die 26. Jazztage mit seinem Auftritt abschließt, warten noch zahlreiche Höhepunkte auf den neugierigen Jazzfan. Etwa ein Abend mit dem französischen Geiger Théo Ceccaldi (30.10.), Zen-Funk mit „Nik Bärtsch´s Ronin“ (7.11.), eines von nur zwei Deutschlandkonzerten der bekannten US-Sängerin und Songschreiberin Rickie Lee Jones (9.11.) oder das Duo von Trompeter Nils Wülker mit Gitarrist Arne Jansen am 29. November.
 
Weitere Infos und Tickets unter www.domicil-dortmund.de
 
Text: Christoph  Giese; Fotos: Kurt Rade


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Angrajazz  2019
Angra do Heroísmo, Terceira, Azoren
 
Das hätte ins Auge gehen können. Wenn Lorenzo ein wenig anders und ein wenig später über die Azoren gerauscht wäre, dann hätte es die 21. Ausgabe von Angrajazz vielleicht nicht oder auf jeden Fall nicht komplett gegeben. Aber so war am Ende alles gut. Zumindest aus der Sicht der Festivalmacher. Denn natürlich hat Hurrikan Lorenzo auf einigen anderen, kleineren Azoreninseln erheblichen Schaden angerichtet, sogar einen Hafen zerstört, und das alles genau einen Tag vor Festivalbeginn. Aber am Vorabend der ersten Konzerte war der Spuk überall vorbei und die Flieger mit den ersten Musikern konnten auf Terceira wieder landen.
 
Wenn der Vergleich bei den von Lorenzo angerichteten Schäden nicht vielleicht ein wenig unpassend klingen würde, ließe sich sagen: Wie ein Wirbelsturm fegte auch das Émile Parisien „Sfumato“ Quintet am Festivaleröffnungsabend über die Inselhauptstadt  Angra do Heroísmo. Im kreisrunden Kultur- und Kongresszentrum schwingt sich der französische Sopransaxofonist mit seiner international besetzten Band zu einer packenden Tour de Force voller Spielwitz auf. Mal kurz von lässigen Rockgrooves in einen Walzer einzubiegen, kein Problem. Foklore mit Jazz zu mischen, gefühlvolle Momente mit wilden Eruptionen und harmonischen und melodischen Abstraktionen von freigeistigem Jazz zu paaren, eigene Stücke mit Material des wilden Joachim Kühn, all das macht Parisiens mitreißenden Auftritt an diesem Abend aus. Vergessen, dass der vorgesehene Gast, Bassklarinettist Michel Portal, wegen Krankheit nicht dabei sein konnte.  
 
Ein anderer Saxofonist überzeugte längst nicht so. Der Portugiese João Mortágua und sein so hoch gelobtes Sextett AXES, besetzt mit vier Saxofonisten und zwei Schlagzeugern, vermochten nie diesen Sog zu entwickeln von dem man sich gerne reinziehen lässt. Schon die elektronischen Effekte bei Saxofonen und auch einigen Schlagzeugbeats - geschmacklich hart an der Grenze. An diesem Abend war vieles bei AXES mehr Stückwerk, trotz der honoren Idee was anderes als das Übliche bieten zu wollen.
 
Manchmal ist aber genau das magisch. Frank Kimbrough Quartet plays Monk! So schlicht der Titel, so zauberhaft das Konzert. Hat man je eine berührendere Version von „Round Midnight“ gehört als jetzt auf Terceira? Schwierig vorzustellen. Wie US-Pianist Frank Kimbrough die Töne  hintupft, Bassist Rufus Reid und Schlagzeuger Billy Drummond die Rhythmen sanft einrühren und Saxofonist Scott Robinson wahnsinnig luftig gespielt die Melodie durch sein Tenorsaxofon haucht – ohne Worte. Eine CD-Box mit sechs Silberscheiben voll mit Monks Musik hat Kimbrough Ende letzten Jahress herausgebracht; mit einem ganzen Schwung dieser Stücke verwöhnte er auf den Azoren.
 
Was blieb sonst noch hängen? Dass US-Sänger Allan Harris ein vorzüglicher Jazz-Crooner ist, der mit raffinierten Versionen bekannter Jazzmusik durchaus zu überraschen wusste. Der aber leider auch gnadenlos überzog und dabei auch noch ein wenig zu viel plauderte. Dass Miguel Zenóns Quartet einfach heiß ist! Dass das heimische Orquestra Angrajazz immer wieder viel Spaß macht. Und dass Angrajazz ein wirklich familiär wirkendes, sehr angenehmes Festival in einer traumhaften Umgebung ist.
 
www.angrajazz.com
 
Text: Christoph  Giese; Fotos: Rui Caria


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Jazzfestival Leibnitz 2019
 
Wenn man Träume hat, dann träumt man sie. Wieder und immer wieder. Und man hofft es bleibt nicht beim Träumen. Wenn Otmar Klammer an den Festivaltagen morgens aufgewacht ist, kann er sicher sein nicht mehr zu träumen. Denn einige seiner langjährigen Wünsche haben sich nun erfüllt. Musiker, die der Künstlerische Leiter des Jazzfestivals Leibnitz immer schon einladen wollte, sind bei der siebten Ausgabe des viertägigen Festivals in der Südsteiermark nun endlich dabei. Miguel Zenón ist so ein Wunschkandidat gewesen. Der Altsaxofonist aus Puerto Rico stellt in Leibnitz seine neue CD Sonero vor, eine Hommage an die Musik des in der ganzen Karibik berühmten, bereits verstorbenen puertorikanischen Sängers Ismael Rivera. Fein wie Zenón und sein eingespieltes Quartett mit dem Österreicher Hans Glawischnig am Bass diese Musik in komplexen Jazz überführt, mit Freiheiten für virtuose Improvisationen und ohne dabei in irgendwelche Latin-Klischees zu rutschen. Auch Tom Harrell stand auf der Wunschliste des Künstlerischen Leiters. Und auch der Amerikaner kam mit seinem Quintett nach Leibnitz und zeigte trotz seiner Erkrankung was für ein formidabler Musiker und Gestalter auf seinen Instrumenten er noch immer ist.  
 
Zum Festivalauftakt war wieder der über 300 Jahre alte Bischöfliche Weinkeller des Schlosses Seggau, oberhalb von Leibnitz gelegen, Spielort des Geschehens. Schon in diesem Gewölbe zwischen den alten, riesigen Weinfässern zu sitzen, das hat was. Die Akustik ist ebenfalls sehr gut. Da fehlen dann nur noch zwei Bands für einen genussvollen Abend. Die hatte Otmar Klammer mit dem „Catherine Morello Faller Trio“ und einem weiteren Dreier, „Das Kapital“, eingeladen. Wie schön, den wesentlich jünger aussehenden und wirkenden 77-Jährigen belgischen Meistergitarristen Philip Catherine im Verbund mit seinen beiden deutschen Kollegen, Gitarrist Paulo Morello und Kontrabassist Sven Faller, zu erleben. Sie beim lässigen Swingen zu beobachten, beim Aufschwingen zu zarten Improvisationen.  Zwischen Gypsy-Grooves, Musette oder einem Choro aus Brasilien verwöhnt dieses Trio. Das Trio „Das Kapital“ mit dem inzwischen in Frankreich lebenden, Wolfsburger Saxofonisten Daniel Erdmann, dem dänischen Gitarristen Hasse Poulsen und dem herrlich bockig und unorthodox trommelnden Franzosen Edward Perraud beleuchten und dekonstruieren unter anderem Musik von Charles Brassens, Klassiker wie Charles Trenets „La Mer“ oder den Disco-Hit „Born To Be Alive“ mit Augenzwinkern, ohne dabei aber jemals den Respekt und die Linien dieser starken Melodien zu verlieren.     
 
Die vorab hoch gelobte „Espoo Big Band“ kommt in Leibnitz vielleicht doch ein wenig zu glatt poliert rüber. Sicher, die Finnen können zauberhaft spielen und zeigen Humor und Spielwitz. Aber ihrem Ruf als eine der kreativsten jazzigen Großformationen Europas werden sie bei ihrem Auftritt im Kulturzentrum der Stadt zumindest nicht durchgehend gerecht. Aber bei einem mehrtägigen Festival kann und muss ja nicht jede Band restlos überzeugen.
 
Mit dem Alten Kino Leibnitz hat das Festival dieses Jahr erstmals einen neuen Spielort ausprobiert für das Friday Night Special. US-Pianist Kevin Hays und der aus Benin  stammende Gitarrist Lionel Loueke gaben sich dort ein intimes, dichtes Stelldichein im Duo. Mit Klavier, Gitarre und Gesang verbinden die beiden ziemlich gut eine jazzige Herangehensweise mit westafrikanischer Einfärbung. Luftige, raffiniert zelebrierte Musik zum Entspannen, nach zuvor ein paar Stunden im Kulturzentrum mit Klängen voller Intensität.    
 
Zum Festivalausklang geht es wieder hinauf zum wundervollen Weingartenhotel Harkamp. Und wieder ist Petrus dem Festival wohlgesonnen, scheint die Sonne doch pünktlich zur Mittagszeit vom blauen Himmel beim Open Air-Auftritt in den Weinbergen. Die „Ivo Papasov Wedding Band“ aus Bulgarien mit ihrem gekonnten Mix aus bulgarischer Folklore und Jazz und ihre durch krumme Metren gejagten Hochgeschwindigkeitsrhythmen sorgt in diesem zauberhaften Ambiente für sehr lebendige Unterhaltung auf Spitzenniveau. Da denkt man sich nur: Schade, dass es nun wieder ein Jahr dauert bis zum nächsten Festival.
   
Text: Christoph  Giese; Fotos: Peter Purgar


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40. Leverkusener Jazztage in der Vorschau
 
Großer, runder Geburtstag am Rhein! Die Leverkusener Jazztage feiern ihren 40. Geburtstag. Da konnte man ein beachtliches Namedropping beim Jubiläumsprogramm erwarten. Und ja, es sind wie immer klangvolle Namen eingeladen. Aber die Macher dieses bekannten Jazzfestivals setzen auch wieder auf klug zusammengestellte Themenabende. Und die versprechen allerbeste Unterhaltung.
 
Oder wie könnte es langweilig werden bei den „German Classics“ mit „Klaus Doldinger´s Passport“ und der musizierenden Plaudertasche Götz Alsmann? Schlagzeugfans dürften sich dagegen mehr auf die „Drum World“ freuen. Kommt doch US-Schlagzeuglegende Billy Cobham. Und US-Saxofonist Bill Evans mit seiner Band „The Spy Killers“, bei der Deutschlands Top-Drummer  Wolfgang Haffner trommelt.  Dazu noch Simon Phillips mit Band – mehr Rhythmus-Cracks an einem Abend geht kaum.
 
Die WDR Big Band trifft in Leverkusen auf die US-Fusionband „Yellowjackets“. Kenny Wayne Sheppard, Kris Barras und Earmonn McCmormack bespielen nacheinander die Bühne im Forum während einer langen Bluesnacht. Das Forum haben dann Reggaesänger Gentleman und Rapper „Samy Deluxe & Das DLX Ensemble“ jeweils einen Tag für sich alleine.
 
Al Di Meola, an gleich zwei Abenden hintereinander, „Incognito“, Tina Dico oder „Element Of Crime“ – das diesjährige Programm ist kunterbunt. Und auch am Nebenspielort, dem Club „Scala“, warten mit der Akkordeonistin Lydie Auvray oder Soulsängerin Kimberose interessante Künstler  auf das sicher wieder zahlreiche Publikum.
 
Alle Termine, weitere Infos und Tickets unter www.leverkusener-jazztage.de
 
Ticket-Hotline: 02171-767959.
 
Text & Fotos: Christoph Giese


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Thomas Hufschmidt Trio & Masha Bijlsma im Katakomben-Theater Essen
 
Es herrschte viel Verkehr auf der Autobahn von Holland nach Essen. Und so kam Masha Bijlsma viel später als geplant im Katakomben-Theater an. Kaum Zeit also für gemeinsames Proben mit dem Trio von Pianist und Folkwang-Professor Thomas Hufschmidt. Das wäre ja vielleicht wichtig gewesen, sah man sich doch zum ersten Mal. Für das Konzert seiner Reihe „Clubdates“ hatte Hufschmidt dem Tipp eines  ebenfalls Piano spielenden Kollegen vertraut und die Sängerin eingeladen. Aber soviel vorweg: Man spürte es nicht, dass diese vier Musiker nie zuvor zusammengespielt hatten.
 
Die Stücke waren selbstverständlich im Vorfeld abgesprochen: Material aus dem reichhaltigen Great American Songbook. Jazzstandards, die in Rüttenscheid aber keineswegs standardisiert klangen. „Softly, As In A Morning Sunrise“, ursprünglich mal für eine Operette geschrieben, verwandelte sich zu einer aufregenden, hart swingenden Nummer. Und so manch anderes Stück bekam an diesem Abend ebenfalls eine interessante andere Färbung verpasst.
 
Dafür sorgten natürlich Thomas Hufschmidt am Keyboard und seine beiden Kollegen an Kontrabass und Schlagzeug. Aber auch Masha Bijlsma, die mit ihrer kräftigen, so wunderbar wandelbaren Altstimme viele Nuancen in das bekannte Liedmaterial einwebte.
 
Röhren kann sie, singend zum Zuckerhut blicken, in Balladen die Seele streicheln, fein scatten. Und ganz am Schluss sich auch noch zu einer mitreißenden Bluesstimme aufschwingen.          
 
Text und Fotos: Christoph Giese


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PUNKT Festival  2019
 
Kristiansand, Norwegen
 
Nein, an eine so lange Lebenszeit des Festivals habe man nie gedacht. Und jetzt stehe man hier und feiere die 15. Ausgabe von PUNKT. Nicht nur Arne Bang, der Bruder von Jan Bang, einem der beiden Festivalgründer, ist erstaunt darüber. Es sind wohl viele. Aber es hat sich in den anderthalb Jahrzehnten dieses auf Live Remixe basierten Festivals etwas Wunderschönes entwickelt: Ein Gefühl von Heimat. Von musikalischer Heimat, weil immer wieder Mitglieder des engen PUNKT-Zirkels der ersten Tage den Weg nach Kristiansand finden und mitwirken. Bei den Konzerten oder als Teile der Remixe. Nils Petter Molvær, Arve Henriksen, Sidsel Endresen, Eivind Aarset oder Bugge Wesseltoft -  sie alle waren auch dieses Mal wieder da. Und dann ist da noch diese intime Atmosphäre, dieses familiäre Gefühl. Kaum ist man in der kleinen, sympathischen Hafenstadt in Südnorwegen angekommen, trifft man auch schon ein bekanntes Gesicht. Viele Fans des Festivals kommen jedes Jahr und auch viele Kollegen, die in der einen oder anderen Art dem Festival beruflich verbunden sind, finden immer wieder den Weg nach Kristiansand.
 
Auch das macht PUNKT aus. Natürlich in erster Linie das musikalische Konzept und die dazugehörige Musik. Die imposante Domkirken stand an einen Nachmittag dieses Jahr im Mittelpunkt. Keyboarder Ståle Størlokken startete auf der Kirchenorgel wobei er interessanterweise beide, an zwei Seiten des Kirchenschiffes angebrachten Orgelpfeifen nutzte. Das allein sorgte schon für interessante Klangvarianten, schon wie er mächtige, dumpfe Orgelsounds aus zwei Richtungen auftauchen ließ.  
 
Ståle Størlokken betörte mit verschiedensten, auch verspielten Stimmungen auf der Kirchenorgel. Ein wunderbares Set, das vor allem etwas auszeichnete, was den danach folgenden „Trondheim Voices“ nicht gelang: rechtzeitig aufzuhören. Die neun Damen des Vokalchores verblüfften durchaus mit ihren stimmlichen Abenteuern und vokalen Ausflügen, aber sie sangen definitiv zu lang, was die Magie ihres Auftritts minderte.
 
Warum so manch einer so von dem US-Gitarristen und Komponisten Steve Tibbets schwärmt, erschloss sich bei seinem Duoauftritt mit dem Perkussionisten Mark Anderson irgendwie nicht. Die Musik ging nicht über einen Punkt hinaus, Tibbets´ Gitarrenspiel war ganz nett, mehr nicht. Aber auch das macht PUNKT so besonders. Man kann, für sich empfunden, ein ziemlich uninteressantes Konzert hören, und dann kommt der Remix und reißt es raus. So geschehen in der Kirche wo Jan Bang, Erik Honoré, Arve Henriksen und Eivind Aarset auch Elemente vom Steve Tibbets-Konzert nutzten um daraus pure Magie zu kreieren.
 
Auch das Powertrio „Supersilent“ gefiel im Club Kick mit seinem Remix irgendwie besser als die Ausgangsquelle, das Konzert der Noiserockband von Gitarrist Thurston Moore. Zum Jubiläum kehrte PUNKT jetzt erstmals seit sieben Jahren wieder zurück ins Kilden Performing Arts Centre, dem 2012 direkt am Wasser erbauten Schmuckstück für Kultur. Der Abend, unter anderem mit dem Sinfonieorchester von Kristiansand welches die Weltpremiere von Dai Fujikura´s Shamisen Concerto spielte, oder mit dem dieses Mal nicht so wahnsinnig inspierenden Trio „Rymden“ wird sicher nicht zu den unvergesslichen in der Festivalhistorie zählen, auch wenn der Orchester-Remix von Jan Bang und Sidsel Endresen und der abschließende Remix von Rymden, mit den Masterminds Jan Band und Erik Honoré, Dai Fujikura, Eivind Aarset und Nils Petter Molvær wieder einige memorable Momente bereithielt.
 
Was bleibt noch hängen von der Jubiläumsausgabe? Jan Bang singt nach Jahrzehnten wieder. „Dark Star Safari“, sein neues, ambitioniertes ArtRock-Bandprojekt mit Festivalmitbegründer Erik Honoré, Gitarrist Eivind Aarset und dem Schweizer Schlagzeuger Samuel Rohrer kombiniert die menschliche Stimme mit Live Sampling und Elektronik in sanften Liedern. Improvisationen führen zu Songstrukturen. Das selbstbetitelte Debütalbum ist im Frühjahr erschienen. Mal sehen wohin sich dieses exquisite Quartett entwickelt. Und mit der lokalen Band Drongo und dem jungen Remixer Simen Løvgren bot das Festival auch dem Nachwuchs wieder eine Plattform. Es wird spannend sein zu verfolgen wie sich die nächste Generation von Festivalmusikern entwickeln wird und darf bei PUNKT.
 
www.punktfestival.no
 
Text: Christoph  Giese; Fotos: Petter Sandell & Alf Solbakken

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Funchal Jazz Festival 2019 auf Madeira
 
Man konnte sich im Vorfeld vielleicht schon fragen wieso Festivaldirektor Paulo Barbosa den Sänger Gregory Porter erneut eingeladen hat. Trat der Amerikaner doch schon vor drei Jahren bei ihm auf. Nach dem Konzert hatte man plötzlich keine Fragen mehr. Denn man war ja dabei gewesen, bei einem sehr emotionalen Auftritt, bei einem Sänger, der die Seele der Zuhörer trifft mit seinen musikalischen Predigten. Der mit seinem weichen, warmen Bariton seine Songs zwischen Souljazz, Blues und Gospel mit Botschaften füllt und dabei auch an die denkt, denen es nicht so gut geht. Und dann hat Porter auch noch eine Band um sich geschart, die allerhöchsten Ansprüchen genügt. Tenorsaxofonist Tivon Pennicott, der das Emotionale in der Musik Porters noch mal dick unterstreicht in seinen Soloausflügen. Oder Chip Crawford, der alte Fuchs am Klavier, der genau weiß, welche Noten er spielen muss, um das Ganze ins rechte Licht zu rücken. Gregory Porter dieses Mal übrigens gleich am ersten Festivalabend, einem Donnerstag, auftreten zu lassen, war ein cleverer Schachzug. So voll hatte man den wahrlich nicht kleinen Santa Catarina-Park im Herzen Funchals bisher noch nicht erlebt zum Festivalauftakt.
 
Den gestaltete direkt vor Gregory Porter übrigens Saxofonist Ben Wendel mit seiner „Seasons Band“. Das „Seasons“-Projekt startete der Kanado-Amerikaner als Videoprojekt mit allen zwölf Monaten des Jahres gewidmeten Duetten. In luxuriöser Quintettbesetzung, mit Gitarrist Gilad Hekselmann, Pianist Aaron Parks, Bassist Matt Brewer und Drummer Kendrick Scott, gab es diese Songs jetzt auf Madeira zu hören. Und es sind die Interaktionen zwischen den Musikern, etwa Gitarre und Piano, die diese Band, die sich keineswegs in eine stilistische Ecke drängen lässt, auszeichnet. Der Bandleader lässt seinen Jungs viele Räume zur Entfaltung und setzt selbst dann immer wieder eigene markante Punkte.
 
Schon seit einiger Zeit gehört der junge João Barradas zu den spannenden neuen Stimmen des portugiesischen Jazz. Sein neuestes, internationales Projekt mit Vibrafon, Kontrabass, Schlagzeug und Gastsaxofonist (Ben van Gelder) hat der Akkordeonist „Portrait“ genannt – und es entwickelt beim Auftritt in Funchal eine Anziehungskraft, der man sich nur zu gerne hingibt. Oft klingt das Akkordeon durch den Einsatz von Elektronik gar nicht mehr wie eines und ist unterstützende Stimme in herrlich ineinandergreifenden Wellengängen von Melodien und Rhythmen der einzelnen Instrumente. Packend und frisch klingt das und bietet trotz Struktur auch Freiheiten.  
 
Terence Blanchard spielte noch bei den Jazz Messengers von Art Blakey. Mit einem Tributkonzert an den lange schon verstorbenen Meisterdrummer schaute der Trompeter aus New Orleans mit seinem E-Collective, mit Schlagzeug-As Jeff „Tain“ Watts als Special Guest, auf Madeira vorbei. Blanchard leistet sich auf der Insel den Luxus, einen Kontra- und einen E-Bassisten in der Band zu beschäftigen, die abwechselnd oder gemeinsam auf der Bühne stehen und das Geschehen in die entsprechende Richtung lenken. Blanchards Blakey-Arrangements, eingebunden in die elektro-akustischen, mitunter wuchtigen, von verzerrter E-Trompete hoch gepushten Klangwelten des E-Collective, machen Spaß. Die Mischung zwischen Blakey- und E-Collective-Material stimmt. Und wie schön als Zugabe den Jazz Messengers-Klassiker „Moanin`“ zu hören.
 
Einen besseren Schluss-Act seines Festivals als Dianne Reeves hätte Paulo Barbosa am letzten der drei Abende kaum wählen können. Die Amerikanerin ist auch mit ihren über 60 Jahren stimmlich noch immer eine Wucht. Kraftvoll, emotional, soulful, geschickt zwischen den Genres singend, das kann die mit fünf Grammys dekorierte Amerikanerin wie kaum eine zweite Sängerin. Für ihren Auftritt auf Madeira hatte sie auch Brasilianisches, gesungen auf Portugiesisch, im Programm, sehr zur Freude des Publikums. Und ihre langjährige Band mit dem brasilianischen Gitarristen Romero Lubambo ist in jedem Augenblick mit der Sängerin auf der Höhe und sorgt auch ohne sie für einige memorable Momente. Wie überhaupt die 20. Ausgabe dieses Festivals in Erinnerung bleiben wird. Auch wenn das runde Jubiläum erstaunlicherweise so gar nicht herausgestellt wurde.
 
www.funchaljazzfestival.org
 
Text: Christoph  Giese; Fotos: Renato Nunes

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40. Montreal Jazz Festival 2019
 
Ob André Ménard sich damals hätte vorstellen können, wohin das mal führt, was aus seinem Baby, dem „Montreal Jazz Festival“, mal werden würde? Sicher, der Musikliebhaber aus Québec, dem französischsprachigen Teil Kanadas, hatte schon die Vision eines großen Open Air Jazzevents, als er zusammen mit Alain Simard vor genau 40 Jahren etwas startete, aus dem heute das weltgrößte Jazzfestival geworden ist. Aber dass sein Festival jedes Jahr im Sommer ein Millionenpublikum anlockt, das hat Ménard, der sich nun aus dem operativen Geschäft zurückzieht, sicher nicht gedacht.
 
Ja, es ist groß, das Festival, mit seinen über 500 Konzerten, davon viele draußen und gratis. In einem ganzen Viertel in Downtown Manhattan ist überall Musik. Und in diesem Jahr bot das Festival auch erstmals in einem weiter entlegenen Stadtteil der Millionenmetropole am Sankt-Lorenz-Strom Konzerte an. Man möchte Schritt für Schritt noch mehr von der Stadt in das musikalische Geschehen des Festivals einbinden.
 
Was sich anhören, das ist die Frage während der elftägigen Jubiläumsausgabe, die erstaunlicherweise trotz rundem Geburtstag nicht mit vielen Superstars protzt. Nein, es sollte keine Retrospektive werden, sondern vor allem ein Blick nach vorne, ein Blick auf junge frische Künstler. Aber natürlich gab es auch dieses Mal Stars, die  die sich dieses Label umhängen könnten, auch wenn sie das sicher gar nicht wollen. Sängerin Melody Gardot ist im positiven Sinne gesehen sicher eine Künstlerin in dieser Kategorie. Gleich an zwei Abenden füllte die US-Amerikanerin, die Französisch so gut spricht, als hätte sie nie was anderes gesprochen, die gut 3.000 Sitze im Salle Wilfried-Pelletier. Gardot kam erst nach einem Verkehrsunfall vor 16 Jahren, bei dem sie schwere Kopf- und Wirbelsäulenverletzungen erlitt, und der sie seitdem zum Tragen von abgedunkelten Brillen zwingt, erst so richtig zur Musik und ans Singen. Seitdem schreibt sie wundervolle, toll arrangierte Songs, die sie am Klavier sitzend oder mit der Gitarre umgehängt und von Streichorchester, Solo-Cellist, Gitarrist und Schlagzeuger begleitet vorträgt. Lässig, intim, dabei immer das Seelenzentrum des Zuhörers treffend. Sie kann Jazz, sie kann Chanson. Sie kommuniziert auf eine Art mit dem Publikum, die einfach berührt. Sie macht fast sprachlos. Ein absolutes Erlebnis!
 
Und was wollte man nach diesem Erlebnis am gleichen Abend noch hören? Erst mal nichts. Erst mal ein wenig übers Festivalgelände streifen, die frische Abendluft genießen. Und dann kommt irgendwann die Lust zurück auf mehr Musik. Denn an diesem Abend spielt ja noch Makaya McCraven, in einem intimen Amphitheater mit gut 400 Plätzen. Der Trommler und Beat-Master aus Chicago, einer der hippen Stimmen des aktuellen Jazz. Einer, der mit hypnotischen, fein konstruierten, mitreißenden Rhythmen und mit HipHop-Attitüde Jazz spielt, dabei eine Band mit Saxofon, E-Gitarre, Bass und Tasteninstrumente um sich schart, die sich von ihm pushen lässt, aber dennoch dabei immer packende melodische Stränge entwickelt.  
 
Mindestens ebenso hip klingt die britische Saxofonistin Nubya Garcia. Eine heiße Kanne spielt die Powerfrau aus London und lässt sich dabei von ihrer Klasseband gerne nach vorne treiben. Spiritueller Jazz, Dub Reggae oder Funk, daraus entsteht bei Garcia eine Mischung, die sich im Live-Spiel immer weiter zu einem Höhepunkt führt. Und das kommt beim Publikum an, das sich immer wieder von der Saxofonistin mitnehmen lässt auf ihre aufgeputschten Reisen. Wem das gefiel der konnte tags darauf Nubya Garcia noch einmal erleben, im Trio des jungen Tubaspielers Theon Cross, ebenfalls aus London. Cross macht aus dem schwerfällig wirkenden Instrument eine leichtfüßige Groovemaschine und verblüfft dabei immer wieder auch mit überraschenden Sounds. Unermüdlich angetrieben von einem knalligen Schlagzeug ist das ein mindestens zum Kopfwippen animierendes Gebräu, was das Trio zu später Abendstunde einem enthusiastischen Publikum servierte.
 
Montreal bot in diesem Jahr viele Möglichkeiten viele junge neue Stimmen des Jazz zu entdecken. So wie das US-Quintett „Butcher Brown“, das rockige E-Gitarrenriffs mit Funk und Jazz kreuzt und dabei viel Spaß macht, auch wenn sich bei dieser Band noch was entwickeln kann.   
 
Anlässlich des 20.Geburtstages seines bahnbrechenden Albums „Bending New Corners“ hatte der französische Trompeter Erik Truffaz in Montreal die Ehre, dieses mit seiner um Rapper Nya erweiterten Band und seinem atmosphärischen, groovigen HipHop-Jazz auf der größten Open Air-Bühne des Festivals zu spielen. Vor gleich vielen Tausenden von Menschen aufzutreten, das habe er zuvor erst ein weiteres Mal erleben dürfen, auf einem Festival in Korea, erzählte Truffaz am nächsten Tag.
 
Auch das ist Montreal, das Unerwartete bekommt seinen Platz. Und wer mit offenen Augen durch die Stadt geht, kann abseits des Jazzfestivals ebenfalls Spannendes entdecken. Etwa einen Fadoabend in einem kleinen Saal hinten in einer alten Kirche. Dort führt die in Montreal lebende portugiesische Sängerin Suzi Silva mit einem Programm das sie „Fad´azz“ nennt, einer Fusion von Fado mit Jazz,  portugiesisches Liedgut mit ihren Arrangements und begleitet von einer fadountypischen Besetzung mit E-Piano, E-Gitarre, Kontrabass und Schlagwerk zu neuen Ufern. Ein traumhaft schönes Konzert und ein lohnenswertes Fremdgehen von einem ganz besonderen Festival.
 
www.montrealjazzfest.com
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Montreal Jazz Festival

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Sakili in der Bleckkirche Gelsenkirchen 2019
 
Vallen Pierre Louis –  Kabosy, Triangel, Gesang
Francis Proper – Rahmentrommel, Leadgesang
Ricardo Legentile – Akkordeon, Gesang
 
Wann hat man das Publikum bei der Konzertreihe „Klangkosmos Weltmusik“ schon so laut jubeln und klatschen hören! Beim Auftritt von „Sakili“ dauert es nur ein paar wenige Stücke, dann sind alle in der Bleckkirche angefixt. Von den stampfenden Rhythmen, die Gitarrist Vallen Pierre Louis mit dem Fuß auf die Bühnenbretter klopft und die Teile des Publikums fleißig mitstampften. Und vor allem von dieser so positiven, Gute Laune verbreitenden Musik des Trios von der Insel Rodrigues.
 
Die liegt knapp 600 Kilometer entfernt von Mauritius im Indischen Ozean. Und  wenn das Leben in Mauritius schon recht langsam laufe, dann sei das für die Einwohner von Rodrigues noch hektisch wie in New York, meint Tourbegleiter Percy in seiner kurzen Ansprache vor dem Konzert.
 
Man mag das gar nicht glauben, wenn man den Klängen von Vallen Pierre Louis (Kabosy und Triangel), Francis Prosper (Rahmentrommel und Leadgesang) und Ricardo Legentile (Akkordeon) lauscht. Denn da geht es kaum langsam und gemächlich zu. Da ist Schwung drin! Die lebendigen heimischen Sega-Rhythmen, inzwischen auf der UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes, bilden die Basis der Songs, die mal Richtung Polka, Walzer, Mazurka oder nach Schottland schielen.
 
So geht es animierend und mitreißend zur Sache. Die Mischung aus afrikanischen Rhythmen und europäischen Tänzen heizt unweigerlich an. Selbst mit amerikanischem Blues lässt sich der Sega prima verbinden, wie das Trio demonstriert. Vallen Pierre Louis wird dann zum coolen Bluessänger.     
 
Party-Feeling in Gelsenkirchen. Dass man die kreolischen Texte nicht versteht, egal! Die eckige Holzgitarre Kabosy, Trommel und Akkordeon sprechen in der Kirche eine internationale Sprache, von der sich alle angesprochen fühlen.
 
Text und Fotos: Christoph Giese

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JazzNacht Zollverein 2019
 
Daniel García wagt Ungeheuerliches. Da erzählt der sympathische Spanier dem Publikum in der Halle 12 der Zeche Zollverein doch tatsächlich, dass der große, verstorbene Jazztrompetengott Miles Davis damals, bei der Produktion von „Sketches Of Spain“, im Stück „Solea“ versucht habe Flamenco zu spielen, ohne jedoch wirklich eine Ahnung vom Flamenco zu haben.
 
Aber wie der Pianist das erzählt, da spürt man natürlich die große Ehrfurcht vor dem Amerikaner. Aber Flamenco ist eben kein Musikstil, den man einfach mal so spielt. Daniel García hat sich die damals von Miles Davis gespielten Noten als Vorlage genommen für eine Hommage an den Trompeter. Und bei „Dream Of Miles“ kann man tatsächlich ins Träumen kommen, so traumhaft schön klingt das Stück.
 
Das „Daniel García Trio“ war eine von zwei Bands der zweiten Auflage der „JazzNacht Zollverein“. War das letztjährige Debüt bereits gut besucht, so konnte die veranstaltende Stiftung Zollverein in diesem Jahr sogar „ausverkauft“ melden.
 
Der Auftakt des Abends mit dem hierzulande noch unbekannten „Daniel García Trio“, das Flamenco und andere Einflüsse in einen zauberhaften Jazzkontext einband – grandios! Als dichte, sich ständig austauschende Einheit präsentierte sich der Spanier mit seinen beiden Partnern aus Kuba an Bass und Schlagzeug. Mit Musik zwischen gefühlvoll und rasant, zudem rhythmisch ziemlich aufregend, und mit wunderschönen, mitsingbaren Melodien.
 
Nach der Pause dann ein gewollter musikalischer Bruch. Die „Nighthawks“ mögen es weniger filigran, dafür deutlich lauter und rockiger. Gestartet Ende der 1990er Jahre zunächst als reines Studioprojekt, hat sich das deutsche Quintett um die beiden Masterminds Dal Martino (Bass) und Reiner Winterschladen (Trompete) längst als Klasse-Liveband etabliert. Die in Essen zwischen tanzbaren, loungigen Klängen und funkig-rockigem Jazz brillierte. Und mit kurzen Ausflügen, etwa in mexikanisches Mariachi-Terrain, auch eine Spur musikalischen Humor bewies.
 
Text : Christoph  Giese; Fotos: Jochen Tack / Stiftung Zollverein

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Rolf Kühn Quartett bei „Jazz in Essen“ im Grillo-Theater
 
Rolf Kühn – Klarinette
Frank Chastenier – Piano
Lisa Wulff – Kontrabass
Tupac Mantilla – Schlagwerk, Body-Percussion
 
Jazzempresario Berthold Klostermann hat sich ein Jahr auf diesen Abend gefreut. Der künstlerische Leiter der Konzertreihe „Jazz in Essen“ plant sein Programm nämlich immer ein Jahr im Voraus. Und jetzt endlich stand Rolf Kühn auf der Bühne des Grillo-Theaters. Der fast 90-Jährige, der in den 1950er und 1960er Jahren in den USA im Benny Goodman-Orchester oder als Solo-Klarinettist bei Tommy Dorsey spielte.
 
Nach Essen hat die lebende Jazzlegende Pianist Frank Chastenier, Bassistin Lisa Wulff und Schlagwerker Tupac Mantilla mitgebracht. Mit letzterem startet er das zweite Set des Abends im Duo. Der Kolumbianer steht neben Rolf Kühn am Bühnenrand und gibt mit Body Percussion den Takt vor, während der alte Haudegen auf seiner Klarinette dazu lustvoll improvisiert.
 
Da spürt man den noch immer großen Spaß bei Rolf Kühn am Entdecken, am Ausprobieren. Auch wenn so manche Nummer des Abends streng durchnotiert ist, er in alten Jazzballaden wie „Body and Soul“ wunderbar in vielen Farbschattierungen auf seiner Klarinette schwelgt. Aber dann wird es wieder frei und mutig – und man glaubt kaum, wie cool so ein 89-Jähriger aufspielt.
 
Text: Christoph Giese, Fotos: Kurt Rade

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„Quartetoukan“ in der Neuen Synagoge Gelsenkirchen „Klangkosmos Weltmusik 2019
 
Miriam Toukan –  Gesang
Maria Dolores-Gay – Cello
Baris Yavuz – Gitarre
Israel Redondo – Perkussion
 
An diesem Abend passt einfach alles. Das schöne Wetter draußen, das die vielen Zuhörer geduldig vor der Neuen Synagoge warten ließ, bis sie sich öffnete zum Konzertabend mit der Band „Quartetoukan“ der israelischen Sängerin Miriam Toukan. Und auch das danach Gespielte und Gehörte, Völker verbindende Stücke Musik.
 
Eigentlich hätte dieses Konzert ja in der Bleckkirche stattgefunden, dem Spielort für die Abende im Rahmen der Reihe „Klangkosmos Weltmusik“. Doch Pfarrer Thomas Schöps bot der Jüdischen Gemeinde das Konzert an. Und mit Unterstützung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Gelsenkirchen konnte der Abend schließlich in der Neuen Synagoge realisiert werden.
 
Und das war eine gute Idee, ist die Neue Synagoge doch ein sehr passender Raum für das was das Quartett mit Stimme, Cello, Gitarre und Perkussionen so präsentiert. Umarrangierte Lieder der berühmten libanesischen Sängerin Fairuz etwa. Wenn Miriam Toukan über Beirut singt, ist man auch ohne Arabischkenntnisse berührt von dem Song. Ein Liebeslied an die israelische Stadt Haifa geht ebenfalls unweigerlich ans Herz.
 
Diese und andere Lieder, etwa über das spanische Córdoba, schlagen Brücken. So wie die arabisch-christliche Sängerin aus I´billin, zwischen Haifa und Akkon im Norden Israels gelegen, verschiedene Kulturen in sich trägt, so tun das auch die von ihr besungenen Städte. Klezmer und arabische Volksmusik verbinden sich dabei schlüssig mit Flamenco. Das immer dann, wenn Gitarrist Baris Yavuz mit seinen feinen Soli in die andalusische Musiktradition eintaucht.  
 
Das Amalgam von „Quartetoukan“ vermittelt Menschlichkeit und Wärme. Und viel passender als mit Leonard Cohens Hymne „Hallelujah“ hätte dieser wunderbarer Konzertabend dann am Ende auch nicht ausklingen können.
 
Text & Fotos: Christoph Giese

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The Sephardics in der werkstatt Gelsenkirchen
 
Manuela Weichenrieder – Gesang & Piano
Ludger Schmidt – elektrisches Cello
Martin Verborg – Geige & Saxofon
Patrick Hengst – Schlagzeug
 
Wovon erzählen diese Lieder? Würde Sängerin und Pianistin Manuela Weichenrieder das nicht immer schön zwischendurch sagen, es wäre für die meisten wohl schwierig geworden den Inhalt zu erahnen. Denn die bearbeitete Musik der spanischen Juden, der sich das Quartett „The Sephardics“ verschrieben hat, findet natürlich überwiegend auf Spanisch statt. Oder ist gerne auch mal mit textlosem, höchst intensiven Gesang versehen.
 
Aber Manuela Weichenrieder erzählt dem aufmerksamen Publikum in der „werkstatt“ gerne worum es geht. Um Amouröses und Erotisches. Oder um Liebe, auch um die, die vorbei ist. Aber klingen diese Lieder in Buer wie Liebeslieder? Nicht zwingend. Denn das historische Musikmaterial dient dem Quartett, dass sich neben dem gewonnenen Musikwettbewerb „creole NRW 2017“ im Sommer auch den renommierten Weltmusikpreis „RUTH“ in Rudolstadt abholen darf, als Grundlage für abenteuerliches Musizieren.    
 
Da wird das elektrische Cello von Ludger Schmidt zur Groovemaschine und zur brachialen, verzerrenden Rockgitarre, während Schlagzeuger Patrick Hengst nach vorne treibt und Martin Verborg auf Geige oder Saxofon wilde Girlanden produziert.
 
In solchen Momenten erlebt man ein ausgelassenes Rockjazzquartett auf der werkstatt-Bühne, um kurze Zeit später wieder einzutauchen in die spanisch-jüdische Musiktradition mit ihren auch berührenden Melodien und Momenten, die aber gleich wieder für expressive Kommentare der Beteiligten aufgebrochen werden. All das machte den Reiz dieses Konzertes und dieser ungewöhnlichen Band aus.
 
Text: Christoph Giese, Fotos: Kurt Rade


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Carminho im Dortmunder „domicil“
 
„Maria“ heißt ihr neues, gelungenes Album. Maria heißt eigentlich auch Fadosängerin Carminho mit erstem Vornamen. Im ausverkauften Jazzclub „domicil“ betörte die Portugiesin mit Intimität, großer Stimme und großen Gefühlen.
 
Ganz dunkel ist es zunächst auf der Bühne. Nur ein roter Lichtkegel ist über dem Kopf der Sängerin. Carminho bringt die herabhängende Lampe zum Hin- und Herschwingen und singt. Hoch emotional, mit sattem, dunklen Timbre. Und explosiv, wenn sie sich in höhere Lagen begibt.
 
Dann setzen die Gitarren ein. Klar, portugiesische Gitarre ist dabei, eine Konzert- und eine Bassgitarre. Aber eben auch E-Gitarre und Lap Steel. Das ist ungewöhnlich für den Fado, sorgt an diesem Abend aber für wunderschöne atmosphärische Akzente zwischendurch.
 
Fado, das ist Emotion pur, großes Gefühlsdrama. Aber das lässt sich auch fröhlich verpacken. Wie in „Bom Dia, Amor“, ein Stück, das auf einem Brief des großen portugiesischen Dichters Fernando Pessoa basiert und eine bislang unerwiderte Liebe besingt. Aber das in so beschwingt tänzelnden Rhythmen verpackt, dass man die Tragik des Inhalts gar nicht spürt, wenn man den portugiesischen Text nicht versteht.  
 
Mit „Chuva no Mar“ der Brasilianerin Marisa Monte geht es auch mal leichtfüßig und zart nach Brasilien. Und Carminho zeigt: Ein Fadokonzert muss nicht immer nur hochdramatisch oder melancholisch klingen.
 
Text: Christoph Giese; Fotos: Kurt Rade

CD-Tipp: Carminho „Maria“ (Warner)

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Snow Jazz Gastein 2019
 
Ein Cello und ein Akkordeon. Mehr braucht es nicht um Magie entstehen zu lassen. Das Sägwerk, der Musikclub des Sepp Grabmaier in Bad Hofgastein, ist gut gefüllt. Das Ambiente in dem gemütlichen Raum passt. Und die Musik, die verzückt schon nach den ersten Klängen. Asja Valcic auf dem Cello und Klaus Paier auf Akkordeon und Bandoneon sind ein langjährig eingespieltes Duo. Das hört man sofort. Und lässt sich trotzdem von den beiden immer wieder überraschen auf ihren mal sehnsüchtigen, mal rasanten, immer hochvirtuosen Musikreisen durch die Welten von Jazz, Tango oder Klassik. Die gebürtige Kroatin und der Österreicher werfen sich gegenseitig Bälle zu, reagieren sofort auf das Spiel des anderen. Etwa wenn das Akkordeon mal kurzzeitig zum Perkussionsinstrument mutiert. Und immer ist alles vollgepackt mit Emotionen. Die Melodien berühren das Herz, auch wenn sie mal mit harten Rhythmusattacken zum Schwingen gebracht werden. Ein Abend zum Niederknien.
 
Das lässt sich ebenso über den Soloauftritt von Enrico Pieranunzi sagen. Wie der charmante Signore aus Rom am Bösendorfer-Flügel gleich zu Beginn seines Konzertes den alten Jazzstandard „I Fall In Love Too Easily“ in sein so fein perlendes Klavierspiel einbettet, das ist schlichtweg wunderschön. Der Italiener ist ein Ästhet auf den schwarz-weißen Tasten, ein Mann, der in Melodien schwelgt, ohne dass es aber auch nur ein einziges Mal glatt gespielt klingt. Eine ganze Reihe von Walzern, darunter der ans Herz gehende  „Fellini´s Waltz“ und Fats Wallers´ „Jitterbug Waltz“, präsentierte ein gut gelaunter Enrico Pieranunzi dem Publikum im wiederum bestens gefüllten Sägewerk und verwandelte was auch immer er an diesem Abend so spielte in zeitlose Jazzklänge mit wahnsinnig viel Eleganz.
 
„small is beautiful“ hieß das diesjährige Festivalmotto. Kleine Formationen sollten es sein. Der Klagenfurter Schlagzeuger Klemens Marktl brachte mit dem russischen Bassisten Boris Kozlov und vor allem mit US-Pianist David Kikoski zwei klangvolle Namen des internationalen Jazz mit ins Sägewerk. Wie oft hatte Marktl nicht schon in Sepp Grabmaiers Jazzclub gespielt. An diesem Abend wohl erst einmal zum letzten Mal. Denn mit Tränchen in den Augen verkündete Sepp Grabmaier kurz vor Beginn des zweiten Sets dieses hervorragenden Mainstream Jazz-Konzertes, eine Snow Jazz-Pause. Gesundheitlich angeschlagen muss sich der so umtriebige Jazzmacher in naher Zukunft mehr um sich als um die Kultur in seiner Region kümmern.   
 
Wie schön, dass die das Festival abschließende Matinee mit anschließendem Jazzbrunch im Hotel Miramonte in Bad Gastein wieder einmal bei strahlendem Sonnenschein stattfinden konnte. Zuerst mit einem unterhaltsamen Duokonzert im Saal des interessanten Designhotels, bei dem der Russe Arkady Shilkloper auf Waldhorn und Alphorn sowie der Amerikaner Jon Sass auf der Tuba eindrucksvoll zeigten, dass man auf diesen vermeintlich ein wenig schwerfälligen Blasinstrumenten sowohl fein und gefühlvoll, aber auch funkig und mit viel Groove jazzen kann. Auf der Terrasse beim Büffet war dann nach diesem Perfekten Kehraus Zeit noch einmal die vergangenen Tage Revue passieren zu lassen und auch an vorherige der insgesamt nun schon 18 Ausgaben vom „Snow Jazz Gastein“ zu denken. Natürlich mit der Hoffnung, dass dieses so besondere Festival irgendwann in nicht so ferner Zukunft doch noch weitergehen wird.
 
www.jazz-im-saegewerk.org
 
Text : Christoph  Giese; Fotos: Jazz im Sägewerk

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Jakob Bro Quartet bei „Jazz in Essen“ im Grillo-Theater
 
Jakob Bro – E-Gitarre
Thomas Morgan – Kontrabass
Joey Baron – Schlagzeug
Palle Mikkelborg – Trompete & Flügelhorn
 
Berthold Klostermann, künstlerischer Leiter der Konzertreihe „Jazz in Essen“, gibt in seiner kurzen Ansprache vor dem ersten gehörten Ton dem zahlreichen Publikum im vollbesetzten Grillo-Theater den Tipp, wie man dem Jakob Bro Quartet am besten begegnen sollte: zurücklehnen und sich in die Musik fallenlassen.
 
Da ist genau der richtige Ansatz für die Klänge des dänischen Gitarristen und seinem formidablen Quartett. Denn Jakob Bro ist ein Meister der Kontemplation, der Stille, des Nachhängens von Tönen. Der Däne tritt in Essen als meist sensibler Geschichtenerzähler auf, der dabei ohne einen großen Plot auskommt.
 
Es sind kurze melodische Einfälle in Zeitlupentempo und Pastelltönen, die er seiner elektrischen Gitarre entlockt und die dann von den anderen aufgenommen werden. Von Thomas Morgan und seinem mitunter eigenwilligen Kommentaren am Kontrabass und von den so herrlich frei schwebenden Pulsschlägen von Schlagzeuger Joey Baron.
 
Und dann ist da ja noch der Altmeister an Trompete und Flügelhorn auf der Bühne, der fast 78-jährige Palle Mikkelborg. Der Landsmann von Jakob Bro hat mit ihm das wunderbare Album „Returnings“ im letzten Jahr veröffentlicht und folgt im Grillo-Theater mit viel Gefühl und sanftem, luftigen Ton den Gitarrenlinien mit Miles Davis-haftem Gestus und Sound.
 
Wunderschön das alles. Entspannend. Entrückend. Sphärisch. Man mochte kaum aufwachen aus diesen Klang(t)räumen.
 
CD-Tipp: Jakob Bro „Returnings“ (ECM/Universal)    
 
Text: Christoph Giese, Fotos: Kurt Rade

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